Juli 1914
31. Juli 1914

Freitag, der 31. Juli 1914

* Die russische Generalmobilmachung * Die deutsche Marine * Neue Vorschläge aus England * Deutschland im Zustand drohender Kriegsgefahr * Österreichs Ablehnung des Faustpfandplans * Deutschland auf Kriegskurs * Die Neutralität Belgiens * Der Kaiser in Berlin * Die Ultimaten an Russland und Frankreich * Kriegshochzeiten * Straßenkundgebungen * Das Gefühl der „Verfolgten Unschuld“ * Der Mord an Jean Jaurès *


In den Straßen von St. Petersburg beginnt man um sechs Uhr morgens, Plakate mit der Mobilmachungsorder anzuschlagen. Laut dem österreichischen Botschafter Szápáry wird die Ankündigung in der Stadt mit „dumpfer Stille“ aufgenommen. Vier Stunden später, um sieben Uhr mitteleuropäischer Zeit, erhält der deutsche Generalstabschef Moltke die Bestätigung der russischen Mobilmachung. Um neun sucht er mit Kriegsminister Falkenhayn die Wilhelmstraße auf und drängt darauf, dass der „Zustand drohender Kriegsgefahr“ erklärt wird. Bethmann Hollweg will aber noch eine weitere Bestätigung abwarten.

 

In Potsdam ahnt der Kaiser zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den russischen Maßnahmen. Ganz von der am Vorabend erwachten Hoffnung beseelt, will er den Faustpfandplan vorantreiben und fordert von Bethmann Hollweg Entwürfe für Telegramme an Georg von England und den Zaren. Nach seinem Morgenritt verfasst er dann eine Denkschrift für die Marine, in der er darlegt, wie er England und Russland zum Einlenken bringen will. Er macht damit Eindruck bei Tirpitz. Der Admiral spricht mit dem Papier bei Bethmann Hollweg vor, der jedoch erwidert, dass der Kaiser einige Dinge durcheinander bekommen habe. Tirpitz schlägt vor, man solle doch versuchen, Russland gegen England zu gewinnen. Der Kanzler erwidert, leider habe das Zarenreich auf die deutschen Vermittlungsversuche mit der Mobilmachung reagiert.

 

Im Gegensatz zum Generalstab ist die Marine keineswegs auf einen Krieg aus. Denn obwohl Tirpitz seine Minimalforderungen aus dem „Kriegsrat“ vom Dezember 1912 erfüllt bekommen hat – den Ausbau des Nordostsee-Kanals und den U-Boot-Stützpunkt auf Helgoland – ist die englische Flotte immer noch weit überlegen. Der Bau der deutschen Schlachtschiffe war nach dem „Kriegsrat“ sogar verlangsamt worden. Zum einen brauchte man den Militäretat für die Umsetzung der Großen Heeresvorlage. Zum anderen bremste Kanzler Bethmann Hollweg, denn er wollte die leichte Verbesserung in den Beziehungen zu Großbritannien nicht durch eine Forcierung des sowieso schon hochproblematischen Flottenbaus torpedieren. Aber selbst bei maximalen Anstrengungen hätte man mit den Briten nicht gleichziehen können. Ursprünglich war die deutsche Flotte auch gar nicht für einen Krieg konzipiert worden, sondern sollte lediglich andere Mächte, vor allem England, abschrecken. Diese Strategie aber war seit Gründung der Triple Entente überholt. Denn es ist nun einmal ein gewaltiger Unterschied, ob sich England allein der deutschen Flotte gegenüber sieht oder im Verbund mit Frankreich und Russland. Trotzdem wurde die Abschreckungs-Theorie nie überdacht. Dazu liebten der Kaiser und Tirpitz ihr Große-Jungs-Spielzeug viel zu sehr. Und beide malten sich zwar gerne aus, wie die „schimmernde Wehr“ andere Mächte beeindruckt, wollten sich ihre schönen Schiffe aber im Grunde wohl gar nicht in einem Krieg vorstellen, wo sie zerstört werden konnten.

 

Während man in Deutschland auf die Bestätigung der russischen Mobilmachung wartet, führt in St. Petersburg k.u.k.-Botschafter Szápáry die Verhandlungen mit dem russischen Außenminister Sasonow fort, „weil ich einerseits die Behauptung Kaiser Wilhelms, wir seien noch immer bereit zu konversieren, nicht desavouieren [bloß stellen] wollte und es mir anderseits schon zur Festlegung unserer taktischen Stellung, als angegriffen, opportun schien, noch einen äußersten Beweis guten Willens gegeben zu haben, um Russland tunlichst ins Unrecht zu setzen.“

Tatsächlich finden an diesem und dem nächsten Tag zwischen beiden Mächten sowohl in St. Petersburg als auch in Wien derart freundschaftlich verlaufende Gespräche statt, dass in Russland, Frankreich und Großbritannien das Gefühl aufkommt, Wien sei am Einlenken. K.u.k-Außenminister Berchtold sagt sogar zu, nicht nur die territoriale Integrität Serbiens zu bewahren, sondern auch das Land nicht demütigen und seine Souveränitätsrechte achten zu wollen. Auf der anderen Seite weigert er sich beharrlich, bei den militärischen Operationen innezuhalten, die ja wohl der eklatanteste Eingriff in die Souveränitätsrechte sind, den man sich vorstellen kann. Der russische Wien-Botschafter Schebeko äußert trotzdem die Hoffnung, Österreich könne nach den ersten Siegen in Serbien vielleicht verhandlungsbereit sein.

 

Einer, der sich von dieser scheinbaren Entspannung nicht täuschen lässt, ist Frankreichs Botschafter in Berlin, Jules Cambon. Er äußert seiner Regierung gegenüber den Verdacht, dass nicht nur Deutschland blockiere, sondern auch Österreichs Gesprächsbereitschaft wohl nur dazu dienen solle, Russland den Schwarzen Peter zuzuschieben. Süffisant führt Cambon an, dass der deutsche Kanzler Bethmann Hollweg sich bei ihm nicht über die russische Mobilmachung beklagt habe, dafür aber sehr ausgiebig bei seinem britischem Kollegen Goschen – wohl weil „man allein in London einwirken will in der Hoffnung, das Eingreifen Englands zu verhindern.“

Tatsächlich sind die französischen Bestrebungen, den Krieg zu verhindern, weit weniger engagiert als die englischen. Erstens glaubt man kaum noch an eine friedliche Lösung, Zweitens käme Ministerpräsident Poincaré und den französischen Militärs ein Krieg nicht ganz so ungelegen, wie die deutsche Seite glaubt. Denn die russischen Rüstungen machen auch dem französischen Bündnispartner Sorgen. Man hegt die Befürchtung, das Zarenreich könne sich in einigen Jahren so stark fühlen, dass es Frankreich bei einem Konflikt mit Deutschland, der nicht direkt russische Interessen berührt, nicht mehr unterstützt. Da man den Krieg aber für nahezu unvermeidlich hält, erscheint es durchaus opportun ihn jetzt auszufechten, wo die Allianz noch steht. Wenn aber schon Krieg, dann will die französische Führung den deutschen Nachbarn gründlich besiegen. Das glaubt man, nur mit englischer Hilfe erreichen zu können. Deshalb hat für Frankreich das Werben um die Briten weiter oberste Priorität.

 

Der englische Außenminister allerdings hat noch nicht aufgegeben. Grey dringt weiter auf eine deutsch-britische Aktion und versichert Botschafter Lichnowsky, wenn Deutschland irgendeinen akzeptablen Vorschlag mache und Russland nehme den nicht an, dann werde Großbritannien seine Entente-Partner fallen lassen. Über seinen Berlin-Botschafter Goschen lässt er zudem die deutsche Regierung fragen, ob nicht vielleicht das österreichische Misstrauen ob der serbischen Versprechen und das russische Misstrauen ob der österreichischen Pläne in Serbien dadurch besiegt werden könne, dass die vier unbeteiligten Mächte als Garanten auftreten. Und zwar sowohl für die Erfüllung der österreichischen Forderungen wie für den Schutz der serbischen Integrität. Das ist zwar nur eine Variante von Greys früheren Vermittlungsvorschlägen. Aber er modifiziert seine Ideen ständig, in der Hoffnung, sie könnten dann für Deutschland und Österreich annehmbar werden. Die Historiker kommen auf insgesamt acht Varianten, die der britische Außenminister in der Krise ins Spiel brachte.

Greys Mitarbeiter im Auswärtigen Amt, schon immer weniger optimistisch als ihr Chef, machen sich dagegen kaum noch Illusionen, zumal britische Agenten aus Köln gemeldet haben, Deutschland führe schon Truppentransporte Richtung Grenze durch. Auch sei damit begonnen worden, die letzten fünf Reservistenjahrgänge einzuziehen. Der besonders misstrauische Deutschland-Spezialist Crowe konstatiert: „Der Vorwand Deutschlands, dass es unter dem Zwange der französischen und russischen Mobilmachung handelt, wird immer absurder. Es steht in seinen drastischen Maßnahmen keiner anderen Regierung nach. … Deutschland treibt seit ein paar Tagen sein Spiel mit uns.“

 

In der Berliner Wilhelmstraße drängen Moltke und Falkenhayn weiter intensiv auf militärische Maßnahmen. Während sie die Politiker bearbeiten, trifft kurz vor zwölf ein Telegramm von Russland-Botschafter Pourtalès ein, das die russische Mobilmachung bestätigt. Daraufhin greift man zum Telefon und informiert endlich auch den Kaiser in Potsdam, der – laut dem Tagebucheintrag seines Bruders Heinrich – die Nachricht „ruhig, gefasst“ aufnimmt. Auf Wunsch aus Berlin gibt Wilhelm II. nun den Befehl, den „Zustand der drohenden Kriegsgefahr“ zu erklären. Der bayerische Militärbevollmächtigte Wenninger, der ohne Wenn und Aber zu den Kriegsbefürwortern gehört, notiert in seinem Tagebuch: „Ich wurde gefragt, was das heiße ‚drohende Kriegsgefahr’ sei ausgesprochen. Ich erkläre kurz …: ‚es ist eben Zabern im ganzen Reich!’ Alles lacht und ist orientiert. Ich eile ins Kriegsministerium. Überall strahlende Gesichter, – Händeschütteln auf den Gängen, man gratuliert sich dass man über den Graben ist.“

 

Wenningers Beobachtung stimmt aber nur für die Militärs. Der russische Botschafter Swerbejew findet, dass Jagow an diesem Vormittag „äußerst düster“ gestimmt sei und in höchster Erregung auf die russische Generalmobilmachung reagiert habe. Der britische Botschafter Goschen spricht von beträchtlicher  Niedergeschlagenheit im Auswärtigen Amt. Arthur Zimmermann habe gesagt, alles käme nur „von diesem verd …. Bündnissystem, das der Fluch der neuen Zeit wäre.“ Dem französischen Botschafter Cambon vertraut Zimmermann an, dies sei der tragischste Tag seit 40 Jahren. Der deutschen Politik scheint so langsam aufzugehen, was ein europäischer Krieg bedeutet. Aber sie hat seit dem vergangenen Abend aufgegeben. Jetzt geht es nur noch darum, Verbündete zu gewinnen und in den Augen der Öffentlichkeit möglichst gut dazustehen. Unter anderem beauftragt Jagow Zimmermann, eine Publikation zur Vorgeschichte des Krieges zusammenzustellen, das so genannte Weißbuch, das belegen soll, wie Deutschland unter dem Druck seiner Gegner zu seinen Handlungen gezwungen wurde.

Auch der Kaiser wird noch einmal zu einem Telegramm an den Zaren genötigt, in dem er klagt: „In meinen Bestreben, den Frieden der Welt zu erhalten, bin ich bis an die äußersten Grenzen des Möglichen gegangen. Die Verantwortung, für das Unheil, das jetzt die ganze zivilisierte Welt bedroht, wird nicht auf mich fallen. …Niemand bedroht die Ehre oder die Macht Russlands, das wohl in der Lage ist, das Ergebnis meiner Vermittlungen abzuwarten … Noch kann der Friede Europas durch Dich erhalten bleiben, wenn Russland einwilligt, die militärischen Maßnahmen einzustellen, die Deutschland und Österreich-Ungarn bedrohen müssen.“

Unabhängig davon trifft kurz vor 15 Uhr ein Telgramm des Zaren ein. Nikolaus II. erklärt, ein Stoppen der Mobilmachung sei leider unmöglich, aber er gebe sein feierliches Wort, dass seine Armee keine herausfordernden Handlungen unternehmen werde, solange die Verhandlungen andauern.

 

In Wien hat am Vormittag der k.u.k.-Ministerrat getagt und Greys Faustpfand-Plan verworfen. Man war sich einig, dass diese Idee gar nichts bringe. „Alles dies wäre Flitterwerk, Russland würde als Retter Serbiens und namentlich der serbischen Armee auftreten. Letztere würde intakt bleiben und wir hätten in zwei bis drei Jahren wieder einen Angriff Serbiens unter viel ungünstigeren Bedingungen zu gewärtigen.“ Man teilt Berlin, London und St. Petersburg aber mit, dass über den Grey-Plan geredet werden könne. Voraussetzung sei allerdings, dass Österreichs militärische Aktionen gegen Serbien einstweilen ihren Fortgang nehmen, die russische Mobilmachung aber eingestellt werde.

Doch ein diplomatisches Einlenken will der deutsche Verbündete gar nicht mehr. Kanzler Bethmann Hollweg lässt nach Wien melden, dass vermutlich in ein oder zwei Tagen die deutsche Mobilmachung kommen werde. „Das bedeutet unvermeidlich Krieg. Wir erwarten von Österreich sofortige tätige Teilnahme am Krieg gegen Russland.“ Auch Jagow erklärt dem k.u.k.-Botschafter Szögyény-Marich, man erwarte, dass das Hauptgewicht der österreichischen Armee gegen Russland und nicht gegen Serbien gerichtet sein werde. Ebenso äußert sich Kaiser Wilhelm in einem Telegramm an Kaiser Franz Joseph. In Wien geht man darauf nicht ein, begrüßt aber, dass es jetzt ernst wird. Glaubt man den Memoiren Conrad von Hötzendorfs, dann erklärt Außenminister Berchtold, er habe in den letzten Tagen den Eindruck gehabt, Deutschland weiche zurück. Nun aber habe er die „beruhigendste Erklärung“ erhalten.

 

Auch Grey muss sich der veränderten Situation stellen. Am Nachmittag fordert er sowohl von der französischen wie von der deutschen Regierung eine verbindliche Auskunft, ob sie die Neutralität Belgiens respektieren würden. 1870 hatten sich die Großmächte gemeinsam zu Garanten für diese Neutralität erklärt. Nun macht Grey sie zum Prüfstein für die Kriegsabsichten auf deutscher und französischer Seite. Aus Frankreich kommt kurz vor Mitternacht die Antwort, man werde Belgiens Neutralität wahren.

 

Angesichts der Ereignisse siedelt die kaiserliche Familie von Potsdam nach Berlin über. Wilhelm II. und seine Frau fahren gegen halb drei im offenen Auto „im goldenen Sonnenglanz“, wie die Zeitungen berichten, durch das Brandenburger Tor, ihnen folgen in zwei weiteren Autos der Kronprinz und dessen Brüder August Wilhelm (1887–1949) und Adalbert (1884–1948). Der Kaiser, der große Generalsuniform trägt, winkt zwar der jubelnden Menge am Straßenrand zu, sieht dabei aber die ganze Zeit streng geradeaus. Als er im Schloss eintrifft, wird dort die purpurrote Königstandarte gehisst. Im von Schinkel entworfenen Sternensaal unterschreibt Wilhelm II. dann im Beisein von Moltke, Falkenhayn, seinem Adjutanten Plessen und Militärkabinetts-Chef Lyncker die Verhängung des Kriegszustandes. Damit geht alle Regierungsgewalt von den zivilen Behörden auf die Militärkommandeure über, die wiederum direkt dem Kaiser unterstehen. Anschließend liest Moltke einen Entwurf für eine kaiserliche Proklamation vor, der – wie Falkenhayn seinem Tagebuch anvertraut – „mit zuweilen fast von Tränen erstickter, aber doch energischer Sprache vorgetragen, einen vortrefflichen Eindruck macht.“ Währenddessen trifft auch Bethmann Hollweg ein und lässt sich die Erlaubnis erteilen, Ultimaten an Russland und Frankreich zu stellen. Frankreich soll erklären, welche Haltung es in einem russisch-deutschen Krieg einzunehmen gedenkt. Russland wird aufgefordert seine Mobilmachung einzustellen. Dieses Vorgehen ist vermutlich am Vormittag mit Moltke und Falkenhayn abgesprochen worden. Dass auf die Ablehnung der Ultimaten Kriegserklärungen folgen sollen, wird von der Regierung als selbstverständlich angesehen, aber wohl nicht ausgesprochen. Bethmann Hollweg telefoniert dann umgehend mit Jagow, der die bereits vorbereiteten Telegramme absendet. Kaiser und Militärs äußern nicht den Wunsch, sie vorher zu sehen.

 

Unterdessen wird die Berliner Bevölkerung informiert, dass sie sich nun im Kriegszustand befindet. Begleitet von einem Kommando mit Trommelwirbel verkündet Oberleutnant Heinrich von Viebahn (1885-1915) vom zentral stationierten Kaiser-Alexander-Garde-Grenadier-Regiments Nr. 1 erst am Denkmal Friedrichs des Großen Unter den Linden, dann an verschiedenen anderen Punkten die entsprechende Proklamation. Später werden Plakate mit den in Kraft getretenen Bestimmungen an den Litfasssäulen ausgehängt. Die Zeitungen bringen wieder Extrablätter, die schon begierig erwartet werden. Der Run auf die Autos, die die Blätter verteilen, verursacht am Potsdamer Platz und anderswo gewaltige Verkehrstaus. „Ganze Berge bedruckten noch feuchten Papiers wurden aus den Automobilen in die Menge geschleudert, die jedes Blatt begierig aufnahm“, verkündet stolz der Berliner Lokalanzeiger, der mit seinen Veröffentlichungen immer besonders schnell ist. Viele Menschen stürmen auch die Telegraphenämter, um Verwandte in der Provinz zu informieren.

Um 17:30 Uhr erscheint der Kaiser mitsamt seiner Familie auf dem Schlossbalkon und hält eine Ansprache: „Eine schwere Stunde ist heute über Deutschland hereingebrochen. Neider überall zwingen uns zu gerechter Verteidigung. Man drückt uns das Schwert in die Hand. Ich hoffe, dass, wenn es nicht in letzter Stunde meinen Bemühungen gelingt, die Gegner zum Einsehen zu bringen und den Frieden zu erhalten, wir das Schwert mit Gottes Hilfe so führen werden, dass wir es mit Ehren wieder in die Scheide stecken können. Enorme Opfer an Gut und Blut würde ein Krieg vom deutschen Volke erfordern, den Gegnern aber würden wir zeigen, was es heißt, Deutschland anzugreifen. Und nun empfehle Ich Euch Gott. Jetzt geht in die Kirche, kniet nieder vor Gott und bittet ihn um Hilfe für unser braves Heer!“

Vermutlich glaubt der Kaiser in diesem Moment wieder mal wirklich, was er sagt. Das versammelte Volk antwortet mit stürmischen Hochrufen und singt die Wacht am Rhein.

 

Zwischen 19 und 20 Uhr nimmt Wilhelm II. mal schnell an der Hochzeit seines Sohnes Oskar (1888–1958) teil, die im Gartensaal des ansonsten leer stehenden Schlosses Bellevue stattfindet. Die Auserwählte des Prinzen, Ina Marie von Bassewitz (1888–1973), ist eine Hofdame der Kaiserin und Wilhelm II. hat jahrelang seine Zustimmung verweigert. Dabei war er durchaus bereit gewesen, die Ex-Hofdame Sophie von Hohenberg als künftige Kaiserin von Österreich anzuerkennen. Doch angesichts des Krieges gibt er nun der unstandesgemäßen Ehe seines Sohnes den Segen. Auch Oskars Bruder Adalbert, der bei der Marine ist, wird noch am 3. August in Wilhelmshaven heiraten, bevor er in den Krieg zieht. Die Kaisersöhne stehen damit nicht alleine. Allein in Berlin gibt es etwa 1000 Nottrauungen für Militärpflichtige, teils am Kranken- oder Wochenbett. Anderswo sieht es ähnlich aus.

 

Nach dem familiären Intermezzo, das gerade mal eine Stunde gedauert hat, widmet sich der Kaiser aber wieder dem, was er als seine Pflichten betrachtet. Er verfasst eine Aufforderung an den italienischen König Victor Emanuel III. (1869–1947), sofort Heer und Flotte mobil zu machen. Das Schreiben ist in einem solchen Ton gehalten, dass es der deutsche Rom-Botschafter Flotow erst einmal gründlich redigiert, bevor er es übergibt. Der italienische König versichert trotz der Abmilderungen, er könne mit Rücksicht auf die Stimmung seines Volkes Deutschland nicht beistehen. Im Übrigen sei er auch nicht dazu verpflichtet, da man nur ein Defensivbündnis habe. „Schurke!“, schreibt Wilhelm auf die Antwort.

Ähnlichen Misserfolg hat er in den nächsten Tagen bei seinem alten Freund Karl von Rumänien und seinem Schwager Konstantin von Griechenland (1868–1923).

 

Derweil herrscht rund um das Schloss ein Auflauf, der die Vossische Zeitung geradezu poetisch stimmt. „Gegen 8 Uhr begannen die Massen auf dem Schlossplatz immer mehr anzuwachsen. Ein warmer Juliabend lag über der Stadt, ein sommerlicher Mond kämpfte vergebens gegen das Licht der Bogenlampen. Kopf an Kopf stand die Menge vor dem Schloss, dessen Fenster auf dieser Seite alle im Dunkel lagen. Wie der Wind über ein Kornfeld, so wogten immer aufs Neue die Rufe und Lieder über die Menge hin. In der Ferne steigt es klingend auf: ‚Lieb Vaterland, magst ruhig sein’; schwillt an, kommt näher, braust über die entblößten Häupter dahin und verklingt irgendwo, aufgenommen von einem Hochrufen, einem anderen Liede, das ihm begegnet. Immer stärker schwillt die Masse an, die Treppen des Domes hinauf, um das Denkmal Friedrich Wilhelms des Dritten scharen sie sich; die Träger der großen Bogenlampen haben zum Teil in mehreren Stockwerken Besatzung gefunden, die schwarz-weiß-rote, schwarz-gelbe, rot-weiß-grüne italienische Fahnen schwingen. Alle Augenblicke steigt ein Hoch auf, ein donnerndes Hurra, auf den Kaiser, auf die Armee, auf Franz Joseph und Viktor Emanuel. Langsam sinkt die Nacht, die Menge harrt auf- und abwogend, gespannt zu den drei weißen Fenstern emporblickend, auf das Erscheinen des Kaisers wartend. Zuweilen schwenken die Vorhänge hin und her, zuweilen taucht in dem Spalt ein Gesicht auf; dann braust stürmisches Hochrufen empor, verhallt und die Menge wartet weiter, singend, rufend, und bei aller Erregung doch gefasst der Schicksale harrend, die sich über ihr zusammenballen.“

Um halb zwölf bittet ein Bediensteter dann um Nachtruhe für den Kaiser. Vor dem Kronprinzenpalais sieht es ähnlich aus und auch Kanzler Bethmann Hollweg hat einige Tausend Zuhörer, als er kurz vor Mitternacht vom Balkon des Kanzlerpalais noch eine kurze Rede hält. „Für die Erhaltung des Friedens hat unser Kaiser bis in die letzten Stunden hinein gewirkt und wirkt auch noch“, versichert er. „Sollten seine Bemühungen vergeblich sein, dann gehen wir mit gutem Gewissen in den Kampf, der uns aufgezwungen wurde.“

 

Die unbedingte Überzeugung, dass der bevorstehende Krieg Deutschland aufgezwungen wurde, herrscht tatsächlich allerorten. „Es kann der Frömmste nicht im Frieden bleiben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt“, zitiert die Vossische Zeitung. „Deutschland hat mehr als vier Jahrzehnte durch die Tat bewiesen, dass es gewillt und bereit ist, einen Frieden mit Ehren zu wahren …. Aber es ist ein Maß in den Dingen, auch in der Geduld. Ein Vierteljahrhundert hat Wilhelm II. den Frieden gefördert, nun ihm das Schwert in die Hand gezwungen wird, zögert er nicht, es entschlossen und herzhaft zu führen. … Die Winkelzüge, die bestimmt sind, Russland, einen Vorsprung in der Kriegsbereitschaft zu sichern, können nicht verfangen, können niemand täuschen.“

 

In Paris dagegen sind laut dem britischen Botschafter Francis Bertie (1844–1919) nur die Zeitungen kriegerisch, nicht aber die Leute. Nur relativ kleine Gruppen junger Männer ergehen sich in patriotischen Kundgebungen. Daneben herrscht angespannte Ängstlichkeit, teils schon Resignation. Am Abend drängt dann ein Mord den drohenden Krieg kurz in den Hintergrund. Ein rechtsradikaler Student erschießt den gerade aus Brüssel zurückgekehrten Sozialistenführer Jean Jaurès in einem Pariser Café. Sein Tod erschüttert die Linke europaweit und selbst bürgerliche deutsche Zeitungen würdigen ihn und bezeichnen ihn als erstes Opfer des Krieges.

 

Die deutsche Regierung dagegen stellt der französischen um 19 Uhr ihr Ultimatum, das Paris auffordert, innerhalb von 18 Stunden zu erklären, wie es sich im Falle eines deutsch russischen Krieges zu verhalten gedenke. Niemand erwartet, dass die Franzosen sich für eine neutrale Haltung entscheiden. Sollte dies aber wider Erwarten doch geschehen, so hat Botschafter Schoen die geheime Anweisung, die Festungen Toul und Verdun als Pfänder zu fordern. Auf diese Weise will die deutsche Führung verhindern, dass Frankreich zwar anfangs neutral bleibt, aber später in den russisch-deutschen Krieg eingreift und so den Schlieffen-Plan sabotiert.

Ungeschickterweise spricht Schoen, nachdem er Außenminister Viviani das Ultimatum übergeben hat, bereits über die Modalitäten seiner Abreise und lässt Präsident Poincaré seine Grüße ausrichten. Für Viviani ist das ein eindeutiges Zeichen, dass Deutschland den Krieg will, „obgleich zwischen Frankreich und Deutschland kein direkter Konflikt besteht und obgleich wir seit Beginn der Krisis alle Anstrengungen zur Erzielung einer friedlichen Lösung gemacht haben und noch machen.“

 

Um 21 Uhr deutscher Zeit – in St. Petersburg ist es bereits Mitternacht – übergibt Botschafter Pourtalès das Ultimatum an Russland. Es fordert die Einstellung der russischen Mobilmachung innerhalb von 12 Stunden – und zwar der gesamten, auch der gegen Österreich-Ungarn. Passiert das nicht, werde man auch in Deutschland mobil machen. Im ursprünglichen Entwurf stand noch: „Die Mobilmachung bedeutet unvermeidlich Krieg.“ Doch diesen Satz hat man vor der Übergabe gestrichen. 

 

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