Juli 1914
1. August 1914

Samstag, der 1. August 1914

* Hamsterkäufe * Die österreichische Generalmobilmachung * Der deutsche Mobilmachungsbeschluss * Die Kriegserklärung an Russland * Verwirrung um die französische Neutralität * Die französische Mobilmachung * 

 

Die Deutschen bereiten sich auf den Krieg vor. In Berlin warten vor dem großen Sparkassengebäude am Mühlendamm bereits vor acht Uhr wieder viele Hundert Menschen, um ihre Konten zu plündern – wie an beinahe jedem Tag seit dem 27. Juli. In den Markthallen gibt es einen Run auf Grundnahrungsmittel. „Neben Mehl und Eiern waren heute in erster Linie Kartoffeln begehrt“, schreibt der Berliner Lokalanzeiger. „Kartoffelsäcke über Kartoffelsäcke wurden hinausgeschleppt, oft in Droschken, in denen vornehme Damen Platz genommen hatten. Bei dieser großen Nachfrage steigt natürlich auch der Preis nicht unbedeutend; fünf Pfund wurden gestern mit 25 Pfennig, heute mit 30 Pfennig und darüber bezahlt. Tee, Kaffee, Zucker, Schokolade, kurzum alle dauerhaften Lebensmittel fanden ebenfalls ungezählte Käufer, in Konserven entwickelte sich große Hausse [steigende Nachfrage], dergleichen in Hülsenfrüchten…. Natürlich waren die Käufer in ihrer überwältigenden Mehrheit über diese Preissteigerungen auf das höchste ungehalten und es hätte nicht viel gefehlt, wenn hier und dort die Kartoffelsäcke umgestürzt worden wären. … In einzelnen Lebensmittelgeschäften ging es noch toller und stürmischer zu; zahlreiche Schutzleute waren vor den Türen  postiert und sorgten für Ordnung. Mehrere Geschäfte hatten schon um 10 Uhr ausverkauft.“

 

Ebenfalls um 10 Uhr bestellt der militärische Befehlshaber von Berlin, Gustav von Kessel (1846–1918), der nun das Kommando über alle Angelegenheiten der Hauptstadt hat, die Presse zu sich. Er mahnt die „vaterländischen Pflichten“ an und informiert über die mit dem Kriegszustand in Kraft getretenen Zensurbestimmungen. Otto Hammann, der Pressereferent des Auswärtigen Amtes, hat die Sprachregelung herausgegeben, dass Russlands Generalmobilmachung den Kriegszustand ausgelöst habe. In das gleiche Horn bläst ein Artikel mit dem Titel „Die Vorgeschichte“, den die Regierung als Sonderausgabe der halbamtlichenNorddeutschen Allgemeinen Zeitung veröffentlichen lässt.

 

Während Kessel die Presse instruiert, lässt sich Kanzler Bethmann Hollweg in einer Audienz beim Kaiser Kriegserklärungen an Frankreich und Russland absegnen. Als um 13 Uhr der Bundesrat zusammentritt, der laut Verfassung seine Zustimmung geben muss, ist die Instruktion an Russland-Botschafter Pourtalès schon abgegangen. Im Übrigen hätten der Bundesrat und die Regierungen der Bundesländer schon früher ein Recht gehabt, sich in die Politik der Reichsregierung einzumischen. Aber offenbar ist bei keinem Fürsten und keiner Landesregierung das Gefühl aufgekommen, dass Dinge im Gang sind, die wichtiger als die wohlverdienten Sommerferien sind. Dabei unterhalten die „Großen Vier“, Bayern, Sachsen, Württemberg und Baden, sogar eigene Gesandtschaften in Berlin. Bethmann Hollweg umreißt den Ratsmitgliedern die Lage dann auch wesentlich weniger ehrlich als zwei Tage zuvor gegenüber den preußischen Ministern. Er strickt das Märchen der unermüdlichen Vermittlungen, die kurz vor dem Durchbruch standen, aber durch russische Rüstungen aus heiterem Himmel sabotiert worden seien. Deutschland habe nicht anders gekonnt, als mit einem Ultimatum zu reagieren, wenn es keine russische Besetzung Ostpreußens habe riskieren wollen.

 

Die Kriegserklärung an Frankreich hält der Kanzler vorerst zurück. Er will abwarten, ob der Nachbar vielleicht selber mit den Feindseligkeiten beginnt. Noch sperrt sich Bethmann Hollweg auch gegen das Drängen der Militärs, mobil zu machen. „Die Ungeduld stand auf Siedehitze“, notiert der bayerische Militärattaché Wenninger in seinem Tagebuch. „Man verliert einen Mobilmachungstag, während rechts und links von uns offenbar flott mobilisiert wird – na, wie ich sehe, hat sich der Kommandierende General selbst geholfen. Reservisten mit ihren Köfferchen eilen durch die Straßen, stürmisch begrüßt. Die Truppe macht mobil, ohne Mobilmachungsbefehl. Der Reichskanzler kann es mit eigenen Augen sehen.“

Irgendwann kommt das (unzutreffende) Gerücht auf, Russland habe um eine Verlängerung des Ultimatums ersucht. „Man erklärt sich diese Bitte damit, dass zwischen Russland und Frankreich Verhandlungen bestehen, weil Frankreich plötzlich wenig Kriegslust zeige“, meldet Wenninger nach München.

 

In Wien bietet währenddessen der russische Botschafter Schebeko Außenminister Berchtold an, den Streitfall doch noch diplomatisch beizulegen. Eigentlich handele es sich zwischen Österreich und Russland doch um ein großes Missverständnis. Bedauerlicherweise scheine man in Deutschland den Krieg forcieren zu wollen. Berchtold gibt sich zwar konziliant.. Aber er lässt sich auf keine wirklichen Zugeständnisse ein und beginnt mit der Generalmobilmachung der k.u.k-Armee. Eine Kriegserklärung Österreich-Ungarns an Russland wird jedoch erst am 6. August erfolgen.

 

In Paris setzt man an diesem Tag eine gewisse Hoffnung auf die russische Zusage, die Mobilisierung einzustellen, wenn alle anderen beteiligten Mächte das auch täten. Aber alle heißt wirklich alle und schließt auch die österreichische Mobilmachung gegen Serbien ein.

 

Kaiser Wilhelm erhält kurz nach 14 Uhr ein Telegramm des Zaren. Dieser äußert Verständnis, dass Deutschland zur Mobilmachung gezwungen sei, bittet aber um eine Zusage, dass diese Maßnahmen nicht den Krieg bedeuten und sie beide weiter verhandeln werden.

 

Unterdessen wartet die deutsche Regierung auf eine Antwort auf das russische Ultimatum, das um 9 Uhr abgelaufen ist. Als um 16 Uhr immer noch keine da ist, fährt Kriegsminister Falkenhayn ins Kanzlerpalais. Er telefoniert auch Moltke und Tirpitz herbei, um den Kanzler gemeinsam zu bearbeiten. Mitten in die Unterredung platzt ein Anruf von Wilhelm II., man solle ihm die Mobilmachungs-Order bringen. In seinem Tagebuch schreibt Falkenhayn, der Kaiser habe ihm nach der Unterzeichnung lange die Hand gedrückt und sie beide hätten Tränen in den Augen gehabt.

 

Draußen vor dem Schloss warten schon den ganzen Tag trotz sengender Sonne wieder Tausende von Menschen. Sie drängen sich auf dem Schlossplatz, hocken auf den Treppenstufen und Sockelvorsprüngen von Dom und Altem Museum, sitzen oder liegen auf den Wiesen des Lustgartens. Die Vossische Zeitung spricht von großem Ernst. Zwischendurch kommt das Gerücht auf, in Frankreich sei nach dem Jaurès-Mord eine Revolution ausgebrochen. Mittags gerät der Wachwechsel, von Musikern des 4. Garderegiments mit einschlägigen patriotischen Hymnen begleitet, wieder zu einer „Hurra“- und Jubelorgie. Am Nachmittag wird es noch voller. Schätzungen gehen von bis zu 200.000 Menschen aus. „Den Fahrraum vom Dom zum Zeughaus bedeckte ein einziger gewaltiger Wagenpark. Autos, Droschken, Lastwagen und Fahrräder und Autobusse in beängstigender Fülle, so dass fast kein Verkehr mehr möglich war, und die Tausende von Menschen standen wie eine Mauer, waren wie ein brandendes Meer“, schildert der Berliner Lokalanzeiger. „Hunderte klettern auf die Wagendächer, dreißig, vierzig Mann stehen auf einzelnen Lastwagen, unbekümmert darum, ob der Führer sein Einverständnis gibt.“ Um 17 Uhr tritt schließlich ein Offizier vor das Schlosstor und verkündet die Mobilmachung.

Die Menge stimmt daraufhin den Choral Nun danket alle Gott an. Prinz Oskar und andere Militärs verlassen das Schloss in Autos und schreien den Wartenden entlang ihres Weges die Nachricht zu. Am Potsdamer Platz steigt ein alter Mann auf einen Tisch und verkündet allen in Hörweite die Neuigkeit. „Mobilmachung! – Das ist die Entscheidung. Von allen erwartet. Ein Aufatmen geht durch die Menge“, stellt der Lokalanzeiger fest. Auch das Berliner Tageblattbeschwört zwar kommende „schwere Tage“ und spricht von „schmerzlicher Gewissheit“, nimmt aber auch „ein Lösen der furchtbaren Spannung“ wahr. Für das Lager der Kriegsfreunde ist es sogar die Erlösung von jahrelangem Leiden. So schildert jedenfalls ein damals 25 Jahre alter Gelegenheitsmaler, der die Nachricht von der Mobilmachung inmitten einer Menschenmasse auf dem Münchner Odeonsplatz erlebt, später seine Empfindungen. Es ist Adolf Hitler.

 

Doch hinter den Kulissen gibt es scheinbar noch einmal eine Wende: Kaum hat der Kaiser die Mobilmachungsorder unterzeichnet, da taucht plötzlich Außenamts-Chef Jagow im Schloss auf. Der Kaiser gratuliert ihm erst einmal nachträglich zur Hochzeit. Bislang haben die beiden in der ganzen Krise noch nicht direkt miteinander gesprochen. Vermutlich wagt Jagow auch diesmal nur, unaufgefordert vor Seiner Majestät zu erscheinen, weil in der Wilhelmstraße gerade „eine sehr wichtige Depesche aus England“ dechiffriert wird. Moltke und Falkenhayn interessiert das nicht mehr. Sie gehen, werden aber umgehend zurückgerufen, denn die Nachrichten aus London klingen wahrhaft sensationell: Laut Botschafter Lichnowsky will Edward Grey wissen, ob Deutschland es respektieren würde, wenn Frankreich in einem Krieg mit Russland neutral bliebe. Wilhelm II. ist begeistert und befiehlt den Aufmarsch nach Westen zu stoppen, vor allem die bereits für den nächsten Tag geplante Besetzung Luxemburgs. Doch damit stürzt er Moltke in Verzweiflung. Unmöglich, erklärt der Generalstabschef. Man habe seit dem Kriegsrat 1912 die Pläne für einen alleinigen Ostaufmarsch nicht mehr aktualisiert, alles würde im Chaos enden und man vertue die Chance, an beiden Fronten zu gewinnen. Wenn man den Aufmarsch ändere, habe man einen Haufen Menschen, aber keine Armee. Was das aber bedeute, das könne nur jemand erkennen, „dem die komplizierte und bis auf das kleinste Detail geregelte Arbeit eines Aufmarsches bekannt ist. Wo jeder Zug auf die Minute geregelt ist, muss jede Änderung in verhängnisvoller Weise wirken.“ Moltke fleht, wenigstens Luxemburg besetzen zu dürfen und von Frankreich das gesamte Land bis zur Maas einschließlich aller dortigen Festungen als Bürgschaft zu verlangen. Der Kaiser und die anderen Anwesenden wollen davon aber nichts wissen. Selbst Kriegsminister Falkenhayn unterstützt Moltke nicht. „Mir war zumute, als ob mir das Herz brechen sollte“, vertraut der Generalstabschef hinterher seinem Tagebuch an. „Ich versuchte vergebens, Seine Majestät davon zu überzeugen, dass wir die Luxemburger Bahnen brauchen, … ich wurde mit der Bemerkung abgefertigt, ich möchte statt ihrer andere Bahnen benutzen.“ Laut seiner schwedische Ehefrau Eliza (1859–1932) kommt er blau und rot im Gesicht heim, bekommt erst vor Aufregung kein Wort hervor, verfällt dann in einen Weinkrampf und schimpft schließlich: „Gegen die Franzosen und Russen will ich Krieg führen, aber nicht gegen einen solchen Kaiser.“

 

Während Wilhelm II. die deutschen Kriegsmaßnahmen erst einmal stoppt und England sein Einverständnis übermitteln lässt, hat sich auch die französische Regierung zur Mobilmachung entschlossen. Poincaré erklärt dem deutschen Botschafter Schoen aber, man halte, eine 10-Kilometer-Zone ein, um Grenz-Zusammenstösse zu vermeiden. Er könne die Hoffnung auf Frieden noch nicht aufgeben.

 

Fast parallel mit den beiden Mobilmachungsbeschlüssen, nämlich um 17 Uhr mitteleuropäischer Zeit, übergibt Botschafter Pourtalès in St. Petersburg die deutsche Kriegserklärung. Die Aufzeichnungen des russischen Außenministeriums berichten, dass er sich zunächst nach einer Antwort auf das Ultimatum erkundigt hat. Minister Sasonow entgegnete, man könne die Mobilmachung leider nicht rückgängig machen, lehne aber weitere Friedensverhandlungen nicht ab. Danach habe Pourtalès in steigender Erregung seine Frage zweimal wiederholt. Als Sasonow bei seiner Antwort blieb, habe der deutsche Botschafter tief atmend und schwer bewegt die Kriegserklärung aus der Tasche gezogen und mit zitternden Händen überreicht. „Nach Überreichung der Note trat Graf Pourtalès, der jede Selbstbeherrschung verloren hatte, zum Fenster …, fasste sich an den Kopf, brach in Tränen aus und sagte: ‚Je n’aurais jamais cru que je quitterais Pétersbourg dans ces conditions [Ich hätte niemals gedacht, dass ich Petersburg unter diesen Umständen verlassen würde].’ Danach umarmt er Sasonow und bittet, ihm Nachrichten über das weitere Procedere zukommen zu lassen. Er sei jetzt nicht fähig, darüber zu sprechen.

 

Auf dem Berliner Schlossplatz singt man statt patriotischer Lieder inzwischen Choräle. „Das ist die deutsche Innerlichkeit“, findet die Kreuzzeitung, „das deutsche religiöse Gemüt, das sich regt und nicht mehr zurückdrängen lässt. Tausende Hüte gehen von den Köpfen. Kein Hurra stört, kein Lärm macht sich bemerkbar; wer nicht mitsingt, lauscht still. Es ist Andacht in die Menge gekommen … Man singt: …Und wenn die Welt voll Teufel wär und wollt uns gar verschlingen ... Das war ein Domgottesdienst unter freiem Himmel, so feierlich, wie er in der schönsten Kirche kaum sein kann. Wie eine Antwort fallen dann mit metallenen Munde die Domglocken voll und tief ein. Aber kein ‚Amen‘ singt die Gemeinde unten, sondern: ‚Hurra, der Kaiser! Hurra das Vaterland!‘“ Unmittelbar danach findet um 18 Uhr im Dom eine spontan einberufene „Kriegsbetstunde“ statt. Auch hier spricht man von einem aufgezwungenen Krieg und gibt die „alte Preußenlosung“ aus: „Mit Gott für König und Vaterland.“

Um halb sieben wendet sich der Kaiser noch einmal an die Menschenmassen, die vor dem Schloss ausgeharrt haben. Er, der bisher Katholiken genauso verabscheut hat wie Sozialisten, spricht vom Balkon die berühmt gewordenen Worte: „Ich kenne keine Parteien und Konfessionen mehr; wir sind heute alle deutsche Brüder.“

Auf seinem Mist gewachsen ist das allerdings nicht. Entworfen wurde diese Rede von Bethmann Hollweg, der um die Zustimmung der Sozialisten zu den Kriegskrediten fürchtete.

Die Menge auf dem Schlossplatz reagiert mit ungeheurem Jubel und singt dann: „Heil dir im Siegerkranz! Herrscher des Vaterlands! Heil, Kaiser, dir! Fühl in des Thrones Glanz die hohe Wonne ganz, Liebling des Volks zu sein! Heil Kaiser dir!“ Die Hymne klingt, als hätte Wilhelm II. sie persönlich in Auftrag gegeben. Sie stammt aber aus dem Jahr 1790 und wurde damals für den dänischen König Christian VII. zum Geburtstag verfasst. Die Melodie ist die der britischen Nationalhymne God Save the King.

 

Um halb neun kommt dann ein weiteres Telegramm von Lichnowsky, der ankündigt, Grey wolle ihm „Vorschläge für Neutralität Englands machen, selbst für den Fall, dass wir mit Russland wie mit Frankreich Krieg hätten.“ Wilhelm II. ist noch mehr begeistert und lässt Sekt kommen. Wenig später schwadroniert er gegenüber dem österreichischen Botschafter Szögyény-Marich, den er im Familienkreis im Garten des Berliner Schlosses empfängt, schon wieder darüber, dass man mit Frankreich abrechnen werde.

 

Doch am späten Abend trifft ein drittes Lichnowsky-Telegramm ein, das verrät, dass die so verheißungsvollen Ankündigungen nur Teil eines Gedankenspiels waren. Dieses ging davon aus, dass Deutschland und Frankreich zwar ihre Truppen an der gemeinsamen Grenze aufmarschieren lassen, jedoch auf einen Angriff verzichten und  „Gewehr bei Fuß“ verharren. Auf diese Weise würde Frankreich Russland beistehen, indem es deutsche Truppen bindet. Ein Blutvergießen – und ein englisches Eingreifen in den Konflikt –  könnte aber vermieden werden. Inzwischen hat Grey die Idee aber als unrealistisch abgetan und verweißt stattdessen eindringlich auf die Bedeutung der belgischen Neutralität. Der Kaiser, der schon schlafen gegangen war, bestellt um 23 Uhr Moltke noch einmal zu sich, empfängt ihn in Nachthemd und Militärmantel und erklärt in „äußerst erregter Stimmung“: „Nun können Sie machen, was sie wollen!“

 

Tatsächlich macht sich an diesem Tag in England ein Meinungsumschwung für einen Kriegseintritt bemerkbar. Die Führer aller Parteien seien sich nun einig, dass die Angelegenheit eine europäische sei, keine hauptsächlich serbische, meldet der russische Botschafter Benckendorff nach St. Petersburg. Der britische Finanzminister Lloyd George dagegen hält fest, die Bankiers und Wirtschaftsvertreter hätten die Regierung angefleht, sich nicht einzumischen. Der Gouverneur der Bank of England, Walter Cunliffe (1855–1920) habe sogar Tränen in den Augen gehabt, als er prophezeite: „Wir sind ruiniert, wenn wir uns da hineinziehen lassen.“

 

Die deutsche Kriegserklärung an Russland aber ist bislang nur wenigen Eingeweihten bekannt. Selbst Kriegsminister Falkenhayn bekommt erst kurz vor Mitternacht Wind davon. Zusammen mit Moltke sucht er Jagow auf, um das Ganze noch zu stoppen. Denn die Militärs wollten zwar die Mobilmachung, aber eine frühzeitige Kriegserklärung ist in ihren Augen Unsinn. Sie finden, es reiche, einen Krieg direkt vor dem Einmarsch zu erklären. Einmarschieren wollen sie aber vorerst nicht in Russland, sondern in Frankreich.

Da die Kriegerklärung längst übergeben ist, ist natürlich nichts mehr zu machen. Aber nachts um 2:30 Uhr findet im Kanzlerpalais tatsächlich mal eine Lagebesprechung im größeren Kreis statt. Es nehmen teil:  Bethmann Hollweg, Jagow, Zimmermann, Stumm, der Außenamts-Jurist Johannes Kriege (1859–1937), Pressechef Hammann, Moltke, Falkenhayn und Tirpitz. Die Aufzeichnungen von Tirpitz über diese „wilde Beratung“, die bis 3:50 Uhr dauert, werfen ein bezeichnendes Licht auf die Zustände innerhalb der Reichsführung.

Bethmann Hollweg und der Jurist Kriege sind der Meinung, dass es nach dem Völkerrecht geboten sei, nun Frankreich den Krieg zu erklären. Falkenhayn und Moltke halten das für völlig übereilt. Tirpitz ist sogar strikt dagegen. Er möchte, dass die deutschen Pläne im Westen erst bekannt werden, wenn sie unmittelbar vor der Umsetzung stehen, damit England möglichst spät in den Krieg eingreift. Jeder Tag Verzögerung sei für die deutsche Flotte ein Gewinn. Tirpitz beklagt sich bitter, der Generalstab sei sich „über die militärische, politische und wirtschaftliche Bedeutung eines Krieges mit England offenbar nicht klar, jedenfalls rücksichtslos darüber hinweggehend zugunsten der … Landkriegsführung.“ In dieser Lage versucht Kanzler Bethmann Hollweg, Moltke vom Einmarsch in Belgien abzubringen, beißt aber auf Granit. Man einigt sich schließlich, die Kriegserklärung an Frankreich und den Einmarsch nach Belgien, um einen Tag hinauszuzögern, d. h. bis zum 3. August. Bei der Besprechung stellt sich außerdem heraus, dass man von Österreich noch gar keine Zusage erhalten hat, ob es Deutschland überhaupt gegen Russland unterstützen wird. Auch wurde Italien, offiziell immer noch Bündnispartner, nicht über die Kriegserklärung an das Zarenreich informiert. „Politische Leitung offenbar in erheblicher Deroute [Verwirrung]“, notiert Tirpitz. Falkenhayn, Moltke und er seien entsetzt gewesen. Moltke hätte beim Herausgehen gesagt, er müsse jetzt die politische Leitung in die Hand nehmen.

 

Eines gelingt der deutschen Regierung jedoch perfekt: die Schuld auf Russland abzuwälzen. Bis auf den Vorwärts, der ab diesem Tag vib der Zensur gebremst wird, sind sich die Zeitungen in ihren Kommentaren einig, dass ein bis zum Äußersten friedliebendes Deutschland von unversöhnlichen, hinterhältigen Feinden überfallen wird. Selbst diejenigen, die sich vorher durch eine weitgehend sachliche und kritische Berichterstattung von der Masse abgehoben haben wie die Münchener Post oder das Berliner Tageblatt stimmen nun in diesen Tenor mit ein.

 

Der radikalste Stimmungsumschwung findet bei der Frankfurter Zeitung statt Das vorher so kritische, liberale Vorzeigeblatt ergeht sich am nächsten Tag in plumpsten, antirussischen Vorurteilen und naivster Parteilichkeit für die eigene Regierung: „Der Kaiser hat die allgemeine Mobilmachung angeordnet“, heißt es. „Lange hätte man diese Erregung nicht mehr ertragen, es wäre zuviel für normale Nerven geworden und man atmet förmlich auf nachdem die Entscheidung gefallen. Deutschland bietet seine waffenfähige Mannschaft auf, dass sie die gewalttätigen Drohungen maßloser Sarmaten [antikes russisches Volk] zurückweise und den deutschen Boden vor moskowitischer Barbarei schütze. Mit einer bis zur äußersten Grenze gehenden Geduld hat Deutschland kein Mittel unversucht gelassen, um eine friedliche Lösung des Konflikts zu finden. Ohne Arg ging es auf die vom Zaren selbst ausgesprochene Bitte ein, eine Vermittlung zwischen dem Standpunkt Österreichs und Russlands zu suchen. Mit einer beispiellosen Perfidie haben es die leitenden Männer Russlands fertig gebracht, in demselben Augenblick, in dem der Zar an die Freundschaft des Deutschen Kaisers appellierte, die Waffe zu schleifen, mit der man Deutschland hinterrücks anzufallen gedachte. Das ist dieselbe Denkart, aus der der Meuchelmord von Sarajewo herausgewachsen ist. Mit den Ehr- und Sittlichkeitsbegriffen westlicher Völker hat dieser heimtückische Geist eines nur oberflächlich gefirnissten Tatarentums nicht das Geringste zu tun. … Wer den Frieden gestört hat, das hat sich in den Vorgängen der letzten Tage deutlich genug erwiesen. Um der Machtgelüste des expansionslustigen Großrussentums willen, das bald in Ostasien, bald in Armenien und Persien, bald auf dem Balkan seine Minen legt, soll ein Krieg entfesselt werden, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat. … Es ist schwer denkbar, dass Frankreich und England sich an die Seite einer Macht stellen könnten, deren Staatsmänner mit einem solchen Übermaß von Zynismus ihre Ziele verfolgen. … Noch schwankt man in Frankreich. Man könnte sich aus Deutschlands fast naiven Bemühungen um den Frieden überzeugen, dass dieses keinerlei böse Absichten gegen Frankreich hegt, und dass es ein Wahnsinn gegen das eigene Volk wäre, es in einen Kampf zu treiben, der nur die russischen Machtgelüste steigern müsste. Deutschland begehrt nichts als in Frieden gelassen zu werden. Wenn es nun aber doch zum schweren Waffengang kommt, so werden die Männer, die ins Feld gerufen werden, tapfer ihre Pflicht zu tun wissen.“

^