Juli 1914
9. Juli 1914

Donnerstag, der 9. Juli 1914

* Österreichs Entscheidung für ein Ultimatum an Serbien * Kurzporträt: Gottlieb von Jagow * Informationspolitik *

 

K.u.k.-Außenminister Berchtold und sein Kabinettchef Hoyos reisen nach Bad Ischl, um Kaiser Franz Joseph über die Ergebnisse der Ministerratssitzung vom 7. Juli zu unterrichten. Der deutsche Botschafter Tschirschky meldet über dieses Treffen nach Berlin, der Kaiser favorisiere ein Ultimatum, um dem Odium der Überrumpelung Serbiens zu entgehen. Dies würde Serbien ins Unrecht setzen und England und Rumänien eine wenigstens neutrale Haltung erleichtern. Von Russland ist nicht die Rede. Es scheint, dass Franz Joseph keine Zweifel am Eingreifen des Zarenreichs hat. Man denke darüber nach, so Tschirschky weiter, die Auflösung großserbischer Vereine und die Entlassung kompromittierter Offiziere zu verlangen und dies durch ein k.u.k.-Organ in Belgrad überwachen zu lassen. Der Wunsch sei, Forderungen zu stellen, die Serbien „eine Annahme völlig unmöglich machen.“

Kaiser Wilhelm II., der an Bord der Hohenzollern über eine Funkanlage verfügt und vom Auswärtigen Amt – allerdings selektiv – auf dem Laufenden gehalten wird, versieht das Telegramm mit wütenden Randbemerkungen, weil ihm alles zu langsam geht.

 

In Berlin ist inzwischen der Leiter des Auswärtigen Amts, Gottlieb von Jagow, zurück und erklärt sich völlig einverstanden mit dem Kurs, den sein Stellvertreter Zimmermann eingeschlagen hat. Jagow ist studierter Jurist, ein kleiner, kränklicher Mann mit einer halbseitigen Lähmung, der jedoch als besonderes Protegé des Kaisers gilt. Als Wilhelm II. ihm 1913 das Auswärtige Amt antrug, soll er sich – eine Parallele zu Kanzler Bethmann Hollweg und seinem Kollegen Berchtold in Österreich – zunächst vehement gesträubt haben, diesen verantwortungsvollen Posten zu übernehmen. Als Botschafter in Luxemburg und Rom hatte er zuvor auch nicht gerade an den Brennpunkten der europäischen Politik gewirkt. Allerdings war er in Italien sehr angesehen gewesen und der renommierte Hamburgische Correspondent schrieb über seinen Weggang: „In Rom wird es freilich wenige geben, die Herrn v. Jagow gerne scheiden sehen, obwohl vielleicht nicht jedem das etwas Knorrige, Eckige und Sarkastische des preußischen Junkers behagte. … es ist interessant, ihm zuzuhören, wie er Personen gegenüber, denen er Vertrauen schenkt, mit Freimut, manchmal mit Sarkasmus politische Dinge und Personen beleuchtet und beurteilt, wobei er ebenso viel Geist als Klarheit des Urteils und Weitblick bekundet.“ Als Leiter des Auswärtigen Amtes dagegen hielten ihn bereits viele seiner Zeitgenossen für überfordert und spekulierten, wie sehr er sich durch seine erfahreneren Mitarbeiter beeinflussen ließ, etwa durch seinen Stellvertreter Zimmermann oder Legationsrat Wilhelm von Stumm. Der deutsche London-Botschafter Lichnowsky, bezeichnete Stumm (der 1914 noch bis zum 11. Juli im Urlaub war) später sogar als Jagows bösen Geist, der ihn völlig beherrscht habe.

 

Völlig überraschend – da seine Frau krank geworden ist – kommt auch Clemens von Delbrück (1856–1921) aus dem Urlaub zurück. Er ist der Leiter des Innenministeriums und gleichzeitig Vizekanzler. Als er erfährt, was sich inzwischen getan hat, kommentiert er spontan: „Das ist der Krieg.“

Er möchte sofort mit Vorbereitungen beginnen, vor allem in Rotterdam Getreide kaufen, aber sowohl Bethmann Hollweg wie Jagow erklären, man arbeite vorerst auf eine Lokalisierung des österreichisch-serbischen Krieges hin. Dazu müsse alles unterbleiben, was nach außen auf kriegerische Absichten hindeute. Delbrück soll nicht einmal seinen Vertreter einweihen. Der Innenamtschef beschränkt sich also darauf, „die einzelnen, meinem Ressort etwa obliegenden Mobilmachungsmaßnahmen durchzudenken und vorsichtig diese oder jene mit den zuständigen Direktoren zu besprechen.“ Nach ein paar Tagen fühlt er sich „klar zum Gefecht“ und setzt seinen unterbrochenen Urlaub fort.

 

Währenddessen spekuliert die Presse weiter über die Pläne der Habsburger-Monarchie. Tiszas Reichstagsrede vom Vortag wird fast wie eine Art Regierungserklärung behandelt. Daneben meldet die Frankfurter Zeitung heute, dass noch kein Schritt gegen Serbien geplant sei. Die regierungsnahe Norddeutsche Allgemeine Zeitung erklärt, Spekulationen über militärische Maßnahmen Österreichs seien verfehlt. Die Leipziger Neuesten Nachrichten sprechen von einer diplomatischen Note, die zunächst nicht unfreundlich sei. Alles Weitere würde dann von der Haltung der serbischen Regierung abhängen. Die Vossische Zeitung meint, es sei in kürzester Zeit ein Schritt geplant, der eine Abstellung der serbischen Agitation verlange, aber keinen Eingriff in die Hoheitsrechte darstelle. Das Berliner Tageblatt dagegen glaubt, erst nach Abschluss der Untersuchungen erfolge ein Schritt, der Hilfe bei weiteren Nachforschungen und Sicherheiten gegen die großserbische Propaganda fordern werde. Woher die Zeitungen ihre Weisheiten jeweils haben, bleibt meist im Dunkeln. Gelegentlich ist von „Kreisen“, „eingeweihten Kreisen“ oder „hochgestellten Persönlichkeiten“ die Rede. Informanten zu nennen ist nicht üblich und so weiß der Leser nicht, welche Interessen die „Persönlichkeiten“ verfolgen und wie nah sie an den Informationsquellen sitzen.

Eigene Korrespondenten sowie direkte Kontakte zu relevanten „Kreisen“ haben zudem nur die großen, renommierten Blätter. Pressemeldungen und allgemeine Pressekonferenzen gibt es noch nicht. Selbst der Pressechef des Auswärtigen Amts, Otto Hammann, informiert nur ausgewählte Journalisten. Also sind die kleineren Blätter auf die Korrespondenzbüros angewiesen. Mit Wolffs Telegraphischem Bureau (WTB) in Deutschland, der französischenHavas, der britischen Reuters und der US-amerikanischen Associated Press gibt es bereits vier große Nachrichtenagenturen. Die drei europäischen haben allerdings ein Abkommen. Reutersberichtet aus dem britischen Empire, Havas aus West- und Südeuropa und Südamerika, und das WTB aus Nord- und Osteuropa. Die Agenturen sind aber noch keine wirklich unabhängigen Informationsquellen. Das Wolffsche Telegraphenbureau etwa befindet sich im Besitz mehrerer großer Bankhäuser und erkauft sich einen bevorzugten Telegraphen-Zugang sowie einen staatlichen Zuschuss, indem es amtliche Depeschen bevorzugt behandelt. Zudem duldet es bei brisanten Themen eine staatliche Vorzensur. Auch sonst arbeitet es eng mit der deutschen Regierung zusammen und gibt deren Verlautbarungen als Meldungen weiter. Regierungskritisches meldet das WTB gar nicht. Außerdem ist die Qualität seiner Berichte oft recht dürftig, da die Korrespondenten – trotz guter Gewinne – notorisch schlecht bezahlt werden. Diese betreiben deshalb ihre Arbeit für das WTB meist nur nebenher. Entweder sind sie gar keine Journalisten oder in erster Linie für Zeitungen tätig.

Daneben gibt es noch Hunderte von Korrespondenzbüros, die jedoch direkt von Parteien, Verbänden, Interessens- und Berufsgruppen betrieben werden, also eher Öffentlichkeitsarbeit betreiben denn journalistische Nachrichtenverbreitung. Eine weitere wichtige Informationsquelle sind ausländische Zeitungen, vor allem solche, die als regierungsnah gelten.

 

Während die deutschen Zeitungen versuchen, – auf welchen Wegen auch immer – Informationen zu sammeln, wird in Österreich-Ungarn Stimmung gemacht. Viele Blätter fordern, dass der „Ball(haus)platz“ wie die Regierung nach ihrem Sitz genannt wird, endlich handelt oder zumindest redet. Die ungarische Zeitung Pesti Hirlap etwa kritisiert: „Der Ballplatz schweigt und gestattet auch nicht, dass über die Untersuchung in Serbien etwas in die Öffentlichkeit dringt. Der Ballplatz schweigt und duldet zugleich, dass in Serbien die Spuren des Attentats verwischt und dass die serbischen intellektuellen Urheber sich rechtzeitig in Sicherheit bringen können. Der Ballplatz schweigt aus Taktik, denn er will die Öffentlichkeit durch Monate in Ungewissheit und nervöser Stimmung erhalten, um dann zu vertuschen und zu versumpfen. Kommt Zeit, kommt Rat, denkt man am Ballplatz und sonst denkt man überhaupt an nichts.“

 

Dieses Klischee einer schlaffen und im Grunde unfähigen k.u.k-Führung ist nicht nur bei den eigenen Untertanen verbreitet, sondern auch im europäischen Ausland, sowohl in der Öffentlichkeit, wie in diplomatischen Kreisen. Der britische Außenminister Grey lässt sich nicht davon anstecken. Er befürchtet einen europäischen Krieg und warnt Berlin via Botschafter Lichnowsky, Großbritannien werde niemals auf der Seite eines Angreifers stehen.  

 

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