Juli 1914
Vor der Krise

28. Juni 1914 Schöner Sonntag in München

Sommer war’s und die Welt soweit in Ordnung. Bei schönstem Wetter verbrachten die meisten Menschen den Sonntag im Grünen. Die sozialen Verhältnisse hatten sich soweit entwickelt, dass auch für die Arbeiter ein Ausflug erschwinglich war. Die Bierkeller warben mit Militärkonzerten. Der „Kranken- und Sterbe-Unterstützungsverein der Arbeiter im städtischen Schlacht- und Viehhof München“ feierte im Thomasbräu-Keller sein 30jähriges Stiftungsfest mit Doppelkonzert, Glückshafen, italienischer Nacht und Festball. Für das Restaurant Deutsches Theater warb der neue Pächter Fritz Baur mit einem viergängigen Menü für 1,50 Mark, im Abonnement 25 Pfennige billiger. Der „Münchner Original-Komiker Carl Valentin“ trat um 11 Uhr im Benz auf, dem „vornehmstem Familien-Cabaret-Varieté der Residenz“. Doch war er an diesem Tag für die Badeanstalten wohl genauso wenig Konkurrenz wie die Lichttheater, auch wenn sie mit so spannenden Titeln wie „Fräulein Edith als Detektivin“ warben und zum Hauptfilm noch Ergänzungen wie „Austernindustrie (lehrreich)“ boten. Die Münchner Städtefußballmannschaft holte sich in Karlsruhe bei glühender Hitze durch ein 3:0 den Metzeler-Pokal und auf der Rennbahn in Riem sorgte Ernest II für Abwechslung zwischen mehreren Favoriten-Siegen. An der Balkenwand warf er kurzerhand seinen Jockey, Leutnant Hermann, ab und mischte reiterlos das übrige Feld auf.

Auch die Tagespresse vermeldete nichts, was diese Sommeridylle gestört hätte. An erster Stelle der Wochenrundschau der Münchner Neuesten Nachrichten stand die Eröffnung des Nord-Ostsee-Kanales, an der auch ein englisches Geschwader teilgenommen hatte. Ein „ansprechendes Bild der internationalen Kameradschaft zur See, dessen Durchführung bis zur letzten Konsequenz vielleicht einmal die letzte Zuflucht Europas sein wird“ schrieb der Autor. Im gespannten Verhältnis zwischen der Türkei und Griechenland schien die unmittelbare Kriegsgefahr abgewendet und auch die Verhandlungen zwischen Amerika und Mexiko in Niagara Falls verliefen positiv. Zwar seien beim neuen französischen Kabinett chauvinistische Töne und eine starke Hinneigung zu Russland erkennbar, doch der Versuch der beiden Mächte auch England an sich zu binden, sei zu offen, um erfolgversprechend zu sein. Außerdem hätten sich die englisch-russischen Gegensätze in Persien wieder verschärft. In München tagte der 40. Deutsche Ärztekongress, in dessen Umfeld die Münchner Rettungsgesellschaft eine groß angelegte Übung auf dem Königsplatz veranstaltete, die eine Panik in der Glyptothek mit 30 Schwerverletzten simulierte. Die Münchner Neusten Nachrichten nutzten das zu einer Glosse, in der sich die Statuen über die Störung ihrer klassischen Ruhe beschwerten und eine Protestresolution aufsetzen.

Die Werbespalten der Sonntagszeitung priesen alle Segnungen der modernen Zivilisation von Sinalco bis Persil und versprachen Wundermittel gegen graue Haare, offene Füße, Nasenröte und Mannesschwäche. Hermann’s Natur-Heilinstitut in der Landwehr Straße kündigte sogar die Heilung von „Geschlechts-Krankheiten, speziell Syphillis ... ohne Quecksilber“ an. Hoch im Schwange stand auch der Joghurt zur Entfettung oder als „Yoghurt-Dattel-Marmelade m. Bacillus u. Streptococcus Bulgaricus gegen Arterienverkalkung“. Die Kaufhäuser wiesen auf den am Montag beginnenden Sommerschlußverkauf hin. Bei Mendelson – Augusten-, Ecke Theresienstraße und am Max-Weber-Platz – gab es Serientage mit Büstenhaltern und Zierschürzen für nur 95 Pfennige und das Kaufhaus Oberpollinger zeigte im Bild wie die gestrickten Damenbinden oder der elastische Monatsgürtel aussahen.

C.P.

24.Juni 1914 Als die deutsche Presse noch differenziert auf Serbien blickte

Der Frühsommer 1914 ist eine Zeit der Regierungskrise. Auch Serbien hat die seine. Ministerpräsident Pasic versuchte in den, in den Balkankriegen neu eroberten Gebieten, den Vorrang der Zivilbehörden gegenüber dem Militär durchzusetzen. Notfalls auch mit Tricks. "Um diejenige Gruppe der Offiziere, die ihren Unmut besonders laut kundgab, unschädlich zu machen, ordnete die Regierung eine Überprüfung des gesamten Gebarens des Konsumvereins der Offiziere an", berichtete die Vossische Zeitung. "Sie hoffte dadurch wertvolles Material gegen die Leiter des Vereins, die dem Kreise der 'Schwarzen Hand' angehören sollen, zu erlangen." Die Sache scheiterte jedoch und Pasic war zum Rücktritt gezwungen. Dass der König den fähigsten Ministerpräsidenten seit den Tagen der Obrenovic [der Vorgängerdynastie] fallen lassen müsse, zeige, dass die Gewalt auch heute noch mehr in Offizierhänden als beim König und seinen Ministern sei, konstatiert die rechte Deutsche Tageszeitung. Die Vossische Zeitung erinnerte daran, dass es aus eben jenen Offizierskreisen vor dem Zweiten Balkankrieg sogar Morddrohungen gegen Pasic und seine Familie gegeben habe, falls er das eroberte Mazedonien - wie vor dem Ersten Balkankrieg vereinbart - an Bulgarien ausliefere. Und auch nach dem Zweiten Balkankrieg, der Serbien die umstrittenen Gebiete sicherte, sei er beschuldigt worden, die Früchte des Sieges preiszugeben, weil er - auf russischen Wunsch - eine Versöhung mit Bulgarien anstrebte.

Doch wie schon so oft, erweist sich auch in dieser Krise der serbische Ministerpräsident als Stehaufmännchen. Weil es der Opposition nicht gelang, eine neue Regierung zu bilden, setzte ihn König Peter Pasic - allerdings nachdem Pasic gewisse Zugeständnisse gemacht hatte - provisorisch wieder ein. Damit habe in Serbien die Zivilgewalt gesiegt, konstatiert die Kreuzzeitung, immerhin das Leib- und Magenblatt der deutschen Militärs. "Große Schlauheit, weitblickende Kenntnis der Verhältnisse und Energie lassen ihn immer noch über seine Gegner triumphieren", zollt die Germania dem serbischen Ministerpräsidenten Respekt. Die Opposition habe schon manche Anstrengung gemacht, seinen Sturz herbeizuführen, aber er habe auch den jüngsten Stoß zu parieren gewusst. Aus der Unfähigkeit der Opposition, eine Regierung zu bilden, musste sich wieder die Unentbehrlichkeit Pasics ergeben, der heute fester stehe denn je. Für die Vossische Zeitung ist der serbische Ministerpräsident ein Meister, der Krisen hervorrufe, wenn er sie brauche, und löse, sobald sie ihren Zweck erreicht hätten. "Wie jede Krisis der Kabinette des Herrn Pasic endete auch die letzte mit dem Verbleiben des ganzen Kabinetts."

Allerdings wurde eine baldige Neuwahl des Parlaments angesetzt. Die Vossische aber geht davon aus, dass Pasic' Regierungspartei die knapp gewinnen werde, da es nicht sehr wahrscheinlich sei, dass sich die oppositionellen Nationalisten und Jungradikalen nunmehr auf einen Kompromiss einigen könnten.

Der müde König

König Peter jedoch übergibt die Regierungsgeschäfte "aus Gesundheitsgründen" an seinen Sohn. Für die deutsche Presse steht fest, dass der serbische König amtsmüde ist. Ihre "Nachrufe" sind recht freundlich. Den bestialischen Mord an seinem despotischen Vorgänger lastet man ihm nicht an. Selbst die Kreuzzeitung geht davon aus, dass Peter zwar von den Umsturz-, nicht aber von den Mordplänen wusste. Allgemein bescheinigt man dem Mann, der vor seiner Thronbesteigung "ein beschauliches Leben geführt" habe und "weder gebieterisch, noch geistig oder körperlich überragend" sei, ein erfolgreiches Lebenswerk. "Auch die, die der Ansicht sind, dass Serbien in seiner Feindseligkeit gegen Österreich oft viel zu weit gegangen ist und das manche Konflikte bei einigem guten Willen müheloser auszugleichen gewesen wären, können doch nicht leugnen, dass das Fazit dieser elf Jahre für Serbien überaus günstig gewesen ist", schriebt die Vossische Zeitung. Aber der König habe es wohl endgültig satt, sich immer wieder den radikalen Militärskreisen fügen zu müssen und die Offiziere nicht in die Schranken verweisen zu können. Soll sich nun der Sohn damit herumplagen ... Wenn er jetzt zurücktrete, könne Peter auf eine erfolgreiche Regierung zurückblicken, meint das Tageblatt und die Germania findet, man könne ihm für die letzten Lebensjahre die ersehnte Ruhe gönnen.


Verteidigungsworte für den Vatikan

Das katholische Blatt würdigt auch gleich noch das Konkordat, das Serbien an diesem 24. Juni mit dem Vatikan geschlossen hat. Es sei völlig verfehlt, den Heiligen Stuhl dafür zu tadeln und den Vertrag als feindlichen Akt gegen Österreich-Ungarn auszulegen. Natürlich habe Serbien das Konkordat nur geschlossen, um Österreichs Ansprüche als Schutzmacht der serbischen Katholiken zurückzuweisen, aber wenn Serbien seinen Katholiken ihre religiösen Rechte garantiere, sei das positiv und der Vatikan könne einem unabhängigen Staat mit geordneter Verwaltung kein Konkordat verweigern.

Eine Woche später wird alles - gerade auch bei der Germania - ganz anders klingen. Nicht die radikalen Offizierskreise, sondern ganz Serbien wird als Fürstenmördervolk verunglimpft werden, die Beileidsbekundgebungen von König Peter, Regent Alexander und Pasic werden als heuchlerisch abgetan. Wenn sie nur wolle, wird es heißen, dann könne die serbische Regierung sehr wohl den großserbischen Terror und alle Pressehetze gegen Österreich-Ungarn stoppen. Wenn sie nur wolle, dann hätte sie nach dem Attentat von sich aus die Rädelsführer des Mordes verhaften und entmachten können, wenn sie nur gewollt hätte, hätte sie das Ultimatum vorbehaltlos akzeptieren können.

Vermutlich wäre die serbische Regierung bei jedem dieser Versuche umgehend von den Offizierskreisen um Dragutin Dimitrijevic gestürzt worden. Was Österreich-Ungarns Militanten natürlich erst recht eine Rechtfertigung für einen Einmarsch gegeben hätte. Aber die Strategie, in einem Problemland schwache, aber halbwegs moderate Kräfte abzuschießen, anstatt sie zu stärken, um es dann mit den wirklich Radikalen zu tun zu bekommen, gegen die man auch richtig radikal vorgehen kann, findet man ja auch heute noch allzuoft.

C.P.

22. Juni 1914 Kein Komet Katastrophen kündend

Auf Einladung des Reeders Albert Ballin trifft sich die Créme de la Créme der wilhelminischen Gesellschaft, inklusive des Kaisers persönlich, zum Auftakt der Kieler Woche auf einem Dampfer in Hamburg. "Wilhelm II. war niemals freier von bösen Sorgen, kein Komet zog, Katastrophen ankündigend, über den nächtlichen Himmel, die Elbe plätscherte friedlich, die Gäste auf der 'Victoria Luise' fühlten die Annehmlichkeiten des Lebens bei vielen guten Getränken und auch Deutschland war ein glückhaftes Schiff", beschreibt Theodor Wolff die Stimmung später am Ende des 9. Kapitels in seinem großartigen Buch Der Krieg des Pontius Pilatus.

C.P.

21.Juni 1914 Sorgenvoller Blick auf Durazzo

"Scheint auch"; schreibt Paul Michaelis in seinem Wochenrückblick im Berliner Tageblatt, "der griechisch-türkische Konflikt, der einen Augenblick bedrohliche Gestatl angenommen hatte, sich allmählich in friedlichem Sinne ausgleichen zu wollen, so hat doch die albanische Krise dafür eine umso gefährlichere Zuspitzung erfahren. Die ganze Woche hindurch ist Durazzo von Aufständischen angegriffen worden, vorläufig allerdings ohne vollen Erfolg. Man wird auch sagen dürfen, dass sich der neue Fürst durch sein tapferes Ausharren manche Sympathien wieder zurückgewonnen hat, die er sich in der ersten Zeit durch schwere Fehler verscherzt hatte. ... Die Unterstützung der Mächte aber reicht nicht weiter, als bis zu dem Versuch, den Fürsten selbst im schlimmsten Fall mit heiler Haut aus Albanien herauszubringen. Die Frage ist nur, was dann mit Albanien, diesem unglücklichem Produkt einer falschen Diplomatie, werden soll. Nur eins ist gewiss, dass es noch auf lange Zeit ein Zankapfel unter den Mächten des Balkans wie unter den Großmächten bleiben wird."

C.P.

17. Juni 1914 Russland, England und das Öl

Im britischen Unterhaus beantragt Marineminister Churchill, die Marineverwaltung zu ermächtigen, die Aktien der Anglo Persian Oil Company zu kaufen. Auf diese Weise könne man sich am besten den nötigen Treibstoff für die Flotte sichern, ohne, wie in der Vergangenheit oftmals geschehen, von den Öltrusts finanziell erpresst zu werden.

Wenn es um Erdöl ging, wurde es aber auch damals schnell politisch brisant. Die Rivalen um das persische Öl waren vor allem Russland und Großbritannien. Doch sie hatten sich zu Kooperation statt Kampf entschlossen. 1907 hatten sie sich auf Einflusszonen in Asien geeinigt, was neben der Anerkennung von Afghanistan als britisches Protektorat vor allem bedeutete, dass Russland freie Hand in Nordpersien (inkl. Aserbeidschan) hatte, Großbritannien im Südosten. Dazwischen gab es eine neutrale Zone. Offiziell blieb Persien zwar selbstständig, faktisch aber griffen vor allem die Russen intensiv in die Politik ein, etwa indem sie dem Schah halfen, Reformbewegungen niederzuschlagen und wieder ein absolutistisches Regiment zu errichten. Großbritannien unterließ es nun - anders als vor dem Vertrag - die Reformer zu unterstützen. Großen Teilen der britischen Presse war das ein Dorn im Auge. Sie prangerten wiederholt an, dass Russland entgegen den Absprachen weite Teile der Zivilverwaltung in seinem "Sektor" unter seine direkte Kontrolle bringe. Auch die deutsche Frankfurter Zeitung berichtete, dass Aserbeidschan, die reichste persische Provinz, unaufhaltsam russifiziert werde und die Truppen des Zarenreichs beharrlich, findig und rücksichtslos das Ziel verfolgten, sich dort festzusetzen und nie wieder abzuziehen. 

Die von Churchill anvisierten Ölfelder der Anglo Persian Oil Company jedoch befanden sich in der neutralen Zone. Das schürte sofort Spekulationen, ob dies der erste Schritt zu einer völligen Aufteilung Persiens zwischen Großbritannien und Russland sein würde, vor allem als sich am 23. Juni  auch noch die Times für eine solche Teilung aussprach, die traditionell gute Verbindungen ins Foreign Office hatte. Die Frankfurter Zeitung urteilte, es gebe dort sicher eine entsprechnde Gruppe, Außenminister Grey gehöre aber wohl nicht dazu, da ein solcher Plan zu offenem Aufruhr in der eigenen Partei führen würde. In der Tat warnen die liberalen britischen Zeitungen Großbritanniens, dass eine solche Aufteilung zu einer direkten Nachbarschaft führe und das sowieso schon problematische Verhältnis in Asien noch verschärfe.

Krieg um Öl?

Immer wenn bei einem Konflikt Erdöl im Spiel ist, dann kommt schnell der Verdacht auf, dass der Kampf ums Öl die treibende Kraft ist. War das beim Ersten Weltkrieg auch der Fall? "Zwei große Nationen, die so nahe und in so weiter Ausdehnung in Asien aneinander grenzen, wie Großbritannien und Russland, haben nur die Wahl zwischen zwei Möglichkeiten ihrer Beziehung zueinander: Ihre Beziehungen können herzlich sein, oder sie können gespannt sein. Indifferent können sie nicht sein", schrieb der deutsche Journalist Theodor Wolff anlässlich der Teilungsgerüchte am 18. Juni im Berliner Tageblatt. Tatsächlich lag dem britischen Außenminister Edward Grey und seiner Mannschaft wohl tatsächlich immens viel an herzlichen Beziehungen zu Russland. Nicht nur wegen des Öles, sondern auch weil der Deal von 1907 Afghanistan umfasste und somit den indischen Besitz schützte. Der Wunsch, es sich nicht mit Russland zu verderben, spielte also ganz sicher eine Rolle für die britische Entscheidung, am Krieg teilzunehmen - neben der Angst allerdings, dass ein deutscher Sieg über Frankreich zwangsläufig zu einer gefährlichen deutsch-englischen Konfrontation führen würde. Aber über den Krieg wurde 1914 nicht in London entschieden. Eine englische Abstinenz hätte die Auseinandersetzung wohl verkleinert, aber nicht verhindert. Das eigentliche Opfer des Öls war Persien, das weiterhin Spielball der Großmächte blieb.

C.P.

15. Juni 1914 Null Bock auf Krise

"Russland ist fertig und Frankreich muss es auch sein." Dies forderte am 13. Juni ein Artikel in der russischen Zeitung Birschewija Wjedemosti, der alle russischen Rüstungsmaßnahmen der letzten Jahre auflistete. Es war ein offenes Geheimnis, dass Kriegsminister Wladimir Suchomlinow dahinter steckte. Wilhelm II. geriet in ungeheure Rage, als er den Artikel vorgelegt bekam: "Endlich haben die Russen die Karten aufgedeckt! Wer in Deutschland jetzt noch nicht geglaubt hat, dass von Russo-Gallien mit Hochdruck auf einen baldigen Krieg gegen uns hingearbeitet wird, ... der verdient umgehend ins Irrenhaus nach Dalldorf geschickt zu werden!", kritzelte er erregt an den Rand. Auch von der heutigen Historikerschaft ist immer wieder der Verweis zu hören, dass dieser Artikel zu den Bausteinen gehörte, die der deutschen Führung im Frühjahr 1914 das Gefühl gab, die Einkreisung durch die die Triple Entente werde zunehmend bedrohlicher.

Und die deutsche Presse von 1914? Nichts! Selbst die rechtsradikale Deutsche Tageszeitung konstatiert, dass dieser Artikel ganz offenbar vor dem Hintergrund der französischen Staatskrise geschrieben worden sei. Nach dem Erdrutschsieg der Linken bei den Wahlen zum französischen Parlament am 10. Mai 1914 waren zwei Versuche der Regierungsbildung am Widerstand der Abgeordneten zur neu eingeführten dreijährigen Dienstzeit des Militärs gescheitert. "Nach Einlaufen der Nachricht vom Sturz Ribots [den das Parlament als Premierminister durchfallen ließ ]", schrieb die Vossische Zeitung, "eilte der Generalstabschef Michnewitsch auf Veranlassung des Kriegsministers Suchomlinow zum Ministerpräsidenten Goremykin, um dessen Ansicht über das Ereignis zu erfahren. ... Es stellte sich heraus, dass Goremykin ebenso wie Suchomlinow überzeugt waren, dass Russland auf der Aufrechterhaltung der dreijährigen Dienstzeit in Frankreich bestehen müsse, da es gerade von Frankreich zu seinen neuesten außerordentlichen militärischen Maßregeln bewogen worden war." "Tante Voss" konstatiert, Russland habe nach all den Opfern, die es für die Aufrüstung der Entente gebracht habe, ein Recht, von Frankreich zu verlangen, seinerseits seine Zusagen einzuhalten. Aber, meint sie, mit der dreijährigen Dienstzeit mobilisiere Frankreich seine letzten Reserven. Je länger dieses Gesetz in Kraft sei, umso mehr werde man die gewaltigen Kosten und den geringen Nutzen einsehen. Dies könne für Deutschland nur von Vorteil sein. "Wir haben Frankreich - und uns - nur eins zu wünschen: dass es gut regiert werde: dass es namentlich zu einer beständigen und sachlichen Leitung seiner auswärtigen Politik gelange. Wir meinen nicht, dass eine solche Leitung seiner Politik uns sonderlich freundlich gesinnt sein müsste. Auch Sir Edward Grey ist gewiss nicht unser Freund. Aber er hat, als er berufen wurde, während des Balkankriegs der Reunion der Botschafter zu präsentieren, die Pflichten des ehrlichen Maklers, die ihm ein solches Prosidium zuwies, wohl erwogen und erfüllt, und das ist auch uns lieb und nützlich gewesen." So müsste auch eine gute französische Führung, erkennen, dass man gemeinsame Interessen mit Deutschland habe, etwa beim Erhalt der Türkei, deren Staatsschulden zu 30 Prozent in deutscher und zu 55 Prozent in französischer Hand seien.

Vermutlich lag die deutsche Presse mit ihrer Einschätzung, dass der russische Artikel eher eine Warnung an Frankreich als an Deutschland war, ziemlich richtig. Trotzdem verwundert es ziemlich, dass nicht einmal die rechten Blätter, die zu anderen Gelegenheiten schon viel kleinere Mücken zu Kriegselefanten aufgeblasen hatten, die Gelegenheit zur martialischen Agitation nutzten. Aber ausgehend vom Alarmruf der Kölner Zeitung im März über die Spekulationen um das britisch-russische Marineabkommen im Mai lässt sich beobachten, dass solche Nachrichten in der Presse ein immer laueres Echo fanden. Man bekommt fast das Gefühl, dass in Deutschland unmittelbar vor dem Attentat von Sarajewo eine weit verbreitete Null-Bock-Stimmung, was weitere Krisen betraf, herrschte. Offenbar hatte die gütliche Beilegung der Balkankrise von 1912/13 doch zu einer recht festen Überzeugung geführt, dass das ständige Gerede von der Unvermeidlichkeit des Krieges doch eher im Bereich der Hysterie anzusiedeln sei. Leider wurden die Männer an der Spitze des Staates im gleichen Maße hysterischer.

C.P.

14.Juni 1914 Kriegsgerüchte

Droht auf dem Balkan ein neuer Krieg? Das Berliner Tageblatt jedenfalls berichtet aus Athen: "Man rechnet hier nach dem augenblicklichen Stande der Dinge durchaus mit der Möglichkeit, wenn nicht mit der Wahrscheinlichkeit eines griechisch-türkischen Krieges." Der Hintergrund: Die Balkankriege 1912/13, die der Türkei fast ihren gesamten europäischen Landbesitz gekostet hatten, hatten auch zu einer massenhaften Flucht und Vertreibung der türkischen Bevölkerung aus den eroberten Gebieten geführt. Türkische Provinzpolitiker an der kleinasiatischen Westküste waren nun vielfach dazu übergegangen, die dort lebende griechische Bevölkerung zu vertreiben, um Platz für die Flüchtlinge zu schaffen. Teilweise wurden griechische Orte von irregeulären Einheiten regelrecht von der Außenwelt abgeschlossen und ausgehungert. Aber auch da, wo keine Übergriffe stattfanden, kam es vielfach zu einer Massenflucht der Griechen. Die türkische Regierung versuchte nur äußerst halbherzig, dies zu stoppen. 

In den ersten Juni-Wochen war der Konflikt immer weiter eskaliert. Zudem hatte die Entscheidung des griechischen Patriarchats, alle Kirchen und Schulen in der Türkei zu schließen, die Aufmerksamkeit Europas auf den Konflikt gezogen und zu einer Welle der Kritik geführt, die wiederum die türkische Regierung aufbrachte. Die Übergriffe wurden als Einzelfälle dargestellt und der griechische Staat seinerseits der Aggression beschuldigt. So hätten griechische Schmuggler türkische Gendarmen getötet und wären dann von einem Torpedo-Boot der griechischen Marine gerettet worden.

Tatsächlich spukte vielen griechischen Politkern, darunter auch Premierminister Eleftherios Venizelos, die Megali Idea, die Idee einer Widerherstellung des antiken Griechenlands vor, zu dem auch Konstantinopel/Istanbul und die türkische Westküste gehören. Als Venizelos nun die Insel Chios und Mytilene für annektiert erklärt und von der türkischen Regierung ultimativ fordert, die Flüchtlinge in ihre Dörfer rückkehren zu lassen und ihnen ihren zerstörten Besitz zu ersetzen, gehen viele politische Beobachter davon aus, dass Griechenland nicht nur die Übergriffe stoppen, sondern mit dieser Idee ernst machen will. Die türkische Regierung beginnt, Reservisten einzuziehen.

Doch Europa schreckt die Aussicht auf einen neuen Krieg im Südosten relativ wenig. Die anderen Balkanstaaten, vor allem Bulgarien hätten wohl kaum Lust, sich einzumischen, urteilt man im Berliner Tageblatt, und damit würden die Feindseligkeiten zwischen den beiden Kontrahenten, die keine gemeinsame Grenze mehr haben, auf Seescharmützel beschränkt bleiben. Nach wie vor bereiten die Aufstände gegen die von den Großmächten eingesetzte Regierung in Albanien Europa viel größere Sorgen.

C.P.

11.Juni 1914 (Fast) alle glauben Grey

Auf die Frage von zwei Abgeordneten im britischen Unterhaus, ob es ein Marine-Abkommen mit Russland gäbe, erklärt Außenminister Grey, im letzten Jahr habe Premier Asquith auf eine ähnliche Frage erwidert, wenn ein Krieg in Europa ausbräche, gäbe es keine unveröffentlichten Abmachungen, die die Regierung binden oder dem Parlament die Freiheit nehmen würden, zu entscheiden, ob England an einem Krieg teilnehme. Diese Antwort wäre auch heute noch so wahr wie damals. Es seien keinerlei derartige Verhandlungen mit irgendeiner Macht abgeschlossen oder im Werden und, soweit er wüsste, auch nicht beabsichtigt. Das Berliner Tageblatt besteht jedoch darauf, dass dies eine von Greys "delphischen Antworten" sei. Man wisse sicher, dass er nicht volles Vertrauen verdiene. Aber es könne sein, dass das Projekt "russisch-britisches Marine-Abkommen", da es nun vorzeitig bekannt geworden sei, gestoppt wurde und damit tatsächlich kein Abkommen mehr im Werden sei.

Für den überwiegenden Rest der deutschen Presse ist die Angelegenheit damit aber endgültig beendet .  Die Frankfurter Zeitung zitiert die liberale, englische Presse, die meint, dass eine Regierung, die ein Abkommen schließe, dass Großbritannien von Russland abhängig mache, wohl innerhalb von 48 Stunden vom Volkszorn hinweggefegt würde. Auch für die Vossische Zeitung verdienen Greys Worte "umso mehr Vertrauen, da sie sich auf der traditionellen britischen Richtlinie halten". Vermutlich habe es von russischer Seite "Anregungen" gegeben, ein solches Abkommen zu schließen, die dann aber schnell an der englischen Abneigung, sich zugunsten hilfsbedürftiger Freunde in politische Abenteuer zu stürzen, gescheitert seien. Selbst die konservative Kreuzzeitung schreibt, Grey sei ein Mann, der die Wahrheit liebt und als solcher auch bei seinen Gegnern geschätzt. "Es liegt uns fern, an seinen Worten zu zweifeln." Sie zitiert den Manchester Guardian, der ein solches Abkommen mit Russland eine "Tollheit" nennt, die nicht einmal begangen werden dürfe, wenn man sich damit den Frieden in Persien [wo es immer wieder Differenzen über die russischen und britischen Einflusssphären gab] erkaufen könne. So schlimm die Unsicherheit in Asien sei, in die Bahnen russischer Politik hineingezogen zu werden, sei schlimmer. Nur die rechtsradikale Deutsche Tageszeitung nutzt die Gelegenheit gegen alle Demokraten und Anhänger des Parlamentarismus zu treten. Greys Erklärung sei überhaupt nicht ernst zu nehmen, erklärt sie, da solche Verträge immer geheim seien und kein "leitender Staatsmann sich durch eine Interpellation im Parlament veranlasst sehen würde, gerade in einer internationalen Frage solcher Art etwas öffentlich zu sagen, was geheim zu halten für beide Kontrahenten selbstverständlich ist."

C.P.

3. Juni 1914 Die Don Quichotes von Basel

In Basel geht die 2. deutsch-französische "Verständigungskonferenz" zu Ende, auf der liberale und sozialistische Abgeordnete aus beiden Ländern gemeinsam nach Wegen gesucht haben, um der Feindschaft zwischen ihren beiden Ländern, vor allem der immer wieder aufflammenden Hetze und Kriegstreiberei in der entsprechenden Kampfpresse friedensstiftende Maßnahmen entgegenzusetzen. So will man künftig einen ständigen Nachrichtenaustausch organisieren, um sich gegenseitig über den wahren Hintergrund der Ereignisse zu informieren, die in der Presse aufgebauscht oder verzerrt werden. "Es gibt in der Weltgeschichte Augenblicke, wo eine Idee, tapfer und mit Nachdruck ausgesprochen, dieselbe Wirkung ausübt, wie eine große Tat", rühmt die Frankfurter Zeitung. Die Gegensätze zwischen Frankreich und Deutschland seien nicht unverrückbar und die Abgeordneten wüssten, "dass Europa von der schweren Last, unter der es seufzt, nur dann erlöst werden kann, wenn der französisch-deutsche Gegensatz beseitigt wird. Wenn Frankreich und Deutschland einig sind", fragt sie, "welche Macht könnte es dann noch wagen, den Weltfrieden frevelhaft durch Krieg zu stören?" Eine solche Einigung würde der Menschheit ungeahnte Aussichten auf Frieden, Fortschritt und Glück eröffnen.

Im Berliner Tageblatt äußert sich der politische Redakteur Paul Michaelis etwas zurückhaltender, aber grundsätzlich ähnlich: "Im deutschen Reichstag sind über 200 Abgeordnete heute für eine dauernde Verständigung mit Frankreich, wie sie in Bern [auf der 1. Konferenz] angeregt wurde, und die französischen Abgeordneten glauben sogar, versichern zu können, dass vier Fünftel der französischen Volksvertretung auf dem Boden einer deutsch-französischen Annäherung stehen. Mag man auch nicht wünschen, dass die Probe auf dieses etwas optimistische Exempel gemacht wird, so hat doch das Ergebnis der letzten französischen Wahlen [mit einem kräftigen Linksruck] erkennen lassen, dass der überwiegende Teil der französischen Wähler den chauvinistischen Treibereien sehr kühl gegenübersteht. Und es ist schon ein Gewinn, wenn die Friedensfreunde auf beiden Seiten der Vogesen auszusprechen wagen, dass sie mehr als nur korrekte Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, dass sie eine freundschaftliche Annäherung zwischen beiden Ländern herbeizuführen wünschen. Auf den Baseler Beschlüssen wird sich weiter aufbauen lasssen."

Die rechte Presse hält von alledem natürlich nichts, aber gibt sich für ihre Verhältnisse relativ moderat. In der Kreuzzeitung weist Chefredakteur Theodor Schiemann darauf hin, dass das Ganze schon deshalb bedeutungslos sei, da von deutscher Seite nur Leute ohne Einfluss teilgenommen hätten - es waren u. a. Philipp Scheidemann, Hugo Haase, damals SPD-Parteivorsitzender, und Eduard Bernstein anwesend. Die Deutsche Tageszeitung spricht von den "Schaumschlägern von Basel." 

Pressekrieg, nächste Runde

Während die Abgeordneten in Basel den Kampf gegen die Windmühlen der deutschen und französischen Kampfpresse aufnehmen, fühlt sich die renommierte Vossische Zeitung, die noch im März heftig gegen den Russland-Alarmruf der Kölnischen Zeitung gelästert hatte, bemüssigt, auf die öffentliche Provokation eines russischen Professors zu reagieren, der die Eroberung der Dardanellen öffentlich als die "vitalste Frage" des Zarenreichs deklariert und Deutschland als ewigen Widersacher in dieser Angelegenheit angeprangert hatte. Nach einer kurzen Würdigung, dass "deutsche und französische Volksvertreter so freundschaftlich miteinander verkehrt" hätten, "dass man eine Annäherung zwischen den beiden Kulturnationen nicht mehr für alle Zeit ins Reich der Träume verbannen brauche" konstatiert "Tante Voss": "Man kann seit einiger Zeit von zahlreichen Russen hören, in ihrer Heimat gelte es als ausgemacht, dass der Krieg mit Deutschland längstens in zwei Jahren, vielleicht aber schon in diesem Herbst ausbreche." Der Autor meint zwar: "Es wird mit solchen Prophezeiungen vermutlich nicht anders sein als mit den früheren Ankündigungen eines Weltkriegs 'für die Zeit der Schneeschmelze'." Aber: "Ist es verwunderlich, dass die tagtäglichen Unfreundlichkeiten der russischen Presse, die fortgesetzten Drohungen gegen Deutschland, die immer wiederkehrenden Probemobilisierungen, die maßlos betriebene Spionage, die Winkelzüge der russischen Diplomatie schließlich eine Nervosität hervorrufen, die der beste Nährboden für ausschweifende Gerüchte ist? Deutschland will mit seinen russischen Nachbarn in Frieden, und, wenn es geht, in Freundschaft leben. ... Aber das deutsche Reich kann sich nicht in den Dienst fremder Interessen stellen und zur Vernichtung Österreich-Ungarns die Hand bieten, damit Russland seine Herrschaft über Konstantinopel ausbreite und in den Balkanstaaten durch seine Satrapen nach Belieben schalte und walte." Der Artikel schließt: "Mit gleicher Sicherheit wie einen Krieg oder sogar mit größerer sagen Schwarzseher die russische Revolution heraus. Doch was auch komme, das deutsche Volk wünscht den Frieden, ohne den Krieg zu fürchten.  Es lässt sich durch Drohungen nicht einschüchtern und durch Herausforderungen nicht verblüffen." In der Julikrise wird die liberale Vossische Zeitung dann eine von denen sein, die von Anfang am entschiedensten die Berechtigung des deutsch-österreichischen Vorgehens verteidigen. 

 C.P.

Ende Mai/Anfang Juni 1914 Das Militär macht Druck

Eine der Merkwürdigkeiten der Julikrise ist, dass in Deutschland jene Kräfte, die ganz klar einen "Präventivkrieg" gegen Russland und Frankreich wünschten, während der Krise selber so gut wie gar nicht in Erscheinung traten. Im Frühjahr 1914 allerdings hatten sie massiv versucht, die deutsche Regierung von ihren Ansichten zu überzeugen. So verfasste Georg von Waldersee, der Quartiermeister und stellvertretende Chef des Generalstabs, im Mai 1914 eine Denkschrift für die Politiker, in der er darlegte, dass im Augenblick die Aussicht, einen großen europäischen Krieg schnell und siegreich zu bestehen, noch sehr günstig sei. "In kurzem wird dies nicht mehr der Fall sein", warnte er aber. Und Waldersees Vorgesetzter, Generalstabschef Helmuth von Moltke bearbeitete Ende Mai, Anfang Juli während einer längeren, gemeinsamen Autofahrt den Leiter des Auswärtigen Amtes, Gottlieb von Jagow. Deutschland bleibe nichts anderes übrig, als bald einen Präventivkrieg zu führen, plädierte er eindringlich, denn in zwei oder drei Jahren sei es der Übermacht seiner Feinde nicht mehr gewachsen.

Jagow lehnte damals zwar dieses Ansinnen ab, gab aber später zu, während der gesamten Julikrise von Moltkes Warnungen beeindruckt gewesen zu sein. Sein Mitarbeiter Wilhelm von Stumm versuchte sich im Juli 1915 gegenüber dem Journalisten Theodor Wolff damit zu rechtfertigen, dass man in zwei Jahren den Krieg gegen Russland zu schlechteren Bedingungen bekommen hätte, wenn man im Juli 1914 anders gehandelt hätte und Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg vertraute im Februar 1918 dem württembergischen Abgeordneten Conrad Haussmann an: "Ja, Gott, in gewissem Sinn war es ein Präventivkrieg. Aber wenn der Krieg über uns hing, wenn er in zwei Jahren noch viel gefährlicher und unentrinnbarer gekommen wäre, und wenn die Militärs sagen, jetzt ist es noch möglich, ohne zu unterliegen, in zwei Jahren nicht mehr. Oh, die Militärs!"

Außerdem ist es gar nicht so ausgemacht, dass der Generalstab während der Krise nicht aktiv wurde. Moltkes Stellvertreter Georg von Waldersee war zwar am 5. und 6. Juli, als der "Blankoscheck" ausgestellt wurde, nicht in Berlin, aber in den Tagen davor und danach. Am 3. Juli sagte er dem sächsischen Militärbeauftragten Traugott Leuckart von Weißdorf, es könne von heute auf morgen zum Krieg kommen. Der Generalstab würde einen Krieg wohl begrüßen, da die Lage nicht mehr günstiger werde, schrieb Leuckart anschließend nach Hause. Von weiteren Aktivitäten Waldersees ist nichts bekannt. Aber es ist wenig wahrscheinlich, dass er seine Ansichten nur dem sächsischen Militärbeauftragten anvertraute. Waldersee zog sich dann zwar auf Schloss Ivenack in Mecklenburg zurück, doch am 17. Juli informierte er Jagow über einige militärische Absprachen mit Österreich für den Kriegsfall und fügte hinzu: "Ich bleibe hier sprungbereit; wir sind im Generalstabe fertig, einstweilen ist von uns ja nichts zu veranlassen." Nach dem Krieg sagte Waldersee aus, er wäre bis zur Eskalation der Krise in Ivenack gewesen, doch die britische Historikerin Annika Mombauer konnte anhand privater Aufzeichnungen nachweisen, dass Waldersee sich nach einer Besprechung mit Jagow und dessen Stellvertreter Zimmermann bewusst nach Ivenack begab, um Aufmerksamkeit zu vermeiden, danach mehrmals kurz nach Berlin kam und ab dem 23. Juli, dem Tag, als das Ultimatum an Serbien übergeben wurde, wieder ständig in der Hauptstadt war. Der zweitwichtigste Mann des Generalstabs war also während der Krise in ständigem Kontakt mit der Regierung.

C.P.

 

29.5.1914 Das Tageblatt auf verlorenem Posten

Da das Berliner Tageblatt bislang relativ wenig Resonanz mit seinen Berichten von den geheimen britisch-russischen Marineverhandlungen erzielt hat, legt es noch einmal nach. Konservative Kreise in Großbritannien hätten die Gespräche zwischen dem britischen Außenminister Grey und dem russischen Frankreich-Botschafter Iswolski in Paris bestätigt, meldet der England-Korrespondent. Doch das deutsche Publikum interessiert sich an diesem und den nächsten Tagen vor allem für die ausführlichen Berichte vom Sinken der Empress of Ireland, im St. Lorenz-Strom, dem schlimmstem Schiffsunglück seit dem Untergang der Titanic, der auch erst zwei Jahre zurücklag. Das kanadische Unglück kostete sogar mehr Passagieren das Leben als die Titanic-Katastrophe, auch wenn die Gesamtzahl der Opfer mit 1012 niedriger lag als bei der Titanic (rund 1500). Überhaupt scheint die deutsche Presse im Augenblick relativ politikmüde. So haben auch ansonsten auf Krawall gebürstete, nationalistische Blätter nur relativ kurz und sachlich gemeldet, dass zwei deutsche Flieger sich in den russischen Luftraum verirrt hätten und dort verhaftet worden seien, obwohl in der Vergangenheit ähnliche Fälle schon für kleinere internationale Erdbeben gesorgt haben. Außerdem werden die Flieger an diesem 29. Mai freigelassen und die rechte Kreuzzeitung nennt es erfreulich, dass sie einwandfrei behandelt worden seien. Daneben druckt die Kreuzzeitung noch einen Korrespondenten-Artikel aus Frankreich ab, der im Nachbarland einen Eindruck der Beruhigung und eine Sehnsucht nach Ruhe feststellt. Nach den vielen Aufregungen der letzten Jahre und den schweren Opfern, die die Politik von Präsident Poincaré dem Land auferlegt hatte - damit ist vor allem die Einführung einer dreijährigen Militärdienstzeit gemeint - wünsche man offenbar seit einiger Zeit, mit dem deutschen Nachbarn in Frieden und Ruhe auszukommen. Eine Einschätzung, der die Herausgeber der Kreuzzeitung dann aber doch meinen, die Warnung hinzufügen zu müssen, dass dies vielleicht für den Moment gelten mag, aber morgen schon wieder anders sein könne und man wohl noch auf unübersehbare Zeit hinaus in Frankreich den revanchelüsternen Gegner sehen müsse.

Dass hinter den französischen Rüstungen aber längst nicht mehr der Revanche-Wunsch wegen der Niederlage von 1871, sondern eine ganz aktuelle Beunruhigung wegen der deutschen Rüstungen und immer wieder geäußerter Präventiv-Kriegs-Ideen in Militaristen-Kreisen steht, mag in Deutschland fast niemand sehen. Während man unabirrbar am Bild des revanchelüsternen Nachbarn festhält, der nur durch das Demonstrieren militärischer Stärke von seinen aggressiven Plänen abzubringen ist, glauben der französische Präsident Poincaré und die Spitzen des Militärs ihrerseits nach den Erfahrungen der beiden Marokko-Krisen, dass man Deutschland am besten durch eine Drohung mit der eigenen und der russischen, militärischen Stärke in Schach hält. So ist das Wettrüsten längst zu einem Teufelskreis geworden, der die wechselseitige Überzeugung, dass der Nachbar Kriegspläne schmiedet, stetig verstärkt.  

C.P.

26.5.1914 Wenig Interesse an der Wahrheit über Balkan-Kriegsgräuel

Recht versteckt zwischen anderen Nachrichten des Tages, vor allem den dramatischen Entwicklungen in Durazzo ( Durres), berichtet die Frankfurter Zeitung von einer Pressekonferenz der Carnegie Stiftung für Internationalen Frieden. Die Stiftung hatte eine Kommission entsandt, die die in den Zeitungen allseits breit getretenen, furchtbaren Kriegsgräuel während der Balkankriege 1912 und 1913 untersuchen sollte. Nun stellt der Sekretär des europäischen Büros der Stiftung, der französische Pazifist Théodore Ruyssen, vorab die Ergebnisse vor: "Keine der am Krieg beteiligten Regierungen ist frei von Schuld an den Scheußlichkeiten und an der völligen Ignorierung jeglichen Völkerrechts und aller internationalen Verträge", meldet die Frankfurter Zeitung, es müsse aber doch festgestellt werden, "dass die Serben die Gesetze der Menschlichkeit am Wenigsten, die Griechen aber am meisten verletzt haben. Dieses Urteil stützt sich auf eine überwältigende Masse einwandfreien Materials." Der Anteil der Türkei sei nicht sehr stark, aber laut Ruyssen möglicherweise noch nicht vollständig aufgeklärt. "Die Bulgaren trifft bei vielen angeblichen Verbrechen, deren sie von den Griechen im Verlauf des zweiten Krieges beschuldigt worden sind, tatsächlich keine Schuld. ... So hat beispielsweise die Komission die griechischen Bischöfe von Dojran, Kawolla und Serres wohlbehalten angetroffen, obwohl die griechische Presse mit allen Einzelheiten erzählt hatte, in welch furchtbarer Weise die kirchlichen Würdenträger niedergemetzelt worden seien." Auch habe die Komission festgestellt, dass es im Norden Mazedoniens gerade die christliche, griechische Bevölkerung gewesen sei, die systematisch die "Muselmanen" drangsaliert habe, "nicht aber umgekehrt, wie oft behauptet wurde."

Heute tendieren die Historiker im Allgemeinen dazu, den von der Carnegie-Komission festgestellten Anteil der Kriegsparteien an den ethnischen Säuberungen und anderen Gräueltaten als recht gleichmäßig zu beurteilen. ( Einen hervorragenden Artikel dazu von Michael Schwartz vom Institut für Zeitgeschichte gibt es übrigens in der Zeitschrift Militärgeschichte vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt). Bemerkenswert aber ist, dass die Presse, die während der Kriege alle wilde Gräuel-Geschichten nur zu gerne abdruckte, auf die Vorstellung des Untersuchungs-Berichts so gut wie gar nicht reagiert. Die Notiz in der Frankfurter Zeitung ist eine Ausnahme und auch als der Bericht der Kommission am 1. Juni tatsächlich erscheint, findet das kein Echo in der Presse. Nach dem Attentat in Sarajewo jedoch wird der Untersuchungsbericht teilweise herangezogen, um die Serben zu diskreditieren. "Die Publikationen der Carnegiekomission erzählen von den furchtbaren Massenmorden, die die Serben an den wehrlosen Albanern im Kosovo begangen haben", schreibt etwa die österreichische Reichspost und verschweigt, dass die Kommission Serbien nicht als einzigen und nicht einmal am Schlimmsten belastet hat. Und davon, dass die "zivilisierten" Großmächte die Waffen für dieses Morden geliefert haben und in ihren Kolonien oft nicht weniger bestialisch agierten, ist natürlich schon gar keine Rede.

C.P.

22.5.1914 Affäre um ein Flottenabkommen

Am 21. Mai des Jahres 1914 bekommt Theodor Wolff, der Chefredakteur des einflussreichen Berliner Tageblatts, überraschenden Besuch von Wilhelm von Stumm, einem der einflussreichsten Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes. Stumm eröffnet Wolff, dass die deutsche Regierung seit Längerem einen Spion - den Baltendeutschen Benno von Siebert - in der russischen Botschaft in Großbritannien sitzen habe. Von diesem habe man nun erfahren, dass die russische Regierung der britischen während deren Staatsbesuch in Frankreich im April ein Flottenabkommen angetragen habe und der britische Premierminister Asquith das Abkommen im Prinzip gebilligt habe. Man wusste auch, dass der russische Außenminister Sasonow seinem London-Botschafter Benckendorff am 15. Mai geschrieben hatte, dieses Abkommen sei "ein wichtiger Schritt, um England an das franko-russisches Bündnis anzuschließen". Genau diese Aussicht aber, dass England aus der freundschaftlichen Entente, die im Grunde zu nichts verpflichtete, ein formales Bündnis mit zwingenden Beistandsverpflichtungen im Kriegsfall werden lassen könnte, nicht das Flottenabkommen selber, entsetzt die deutsche Regierung. Also bittet Stumm Wolff, die geheimen Absprachen zu veröffentlichen, in der Hoffnung, sie so zum Scheitern zu bringen. Dass die Regierung - erstmalig - den kritischen Liberalen Wolff für eine solche Mission auswählt und nicht einen ihrer inoffiziellen Hofberichterstatter von den offiziösen Blättern, ist bemerkenswert. Wahrscheinlich wollte man den Verdacht, die deutsche Regierung sei die Quelle erst gar nicht aufkommen lassen, wohl auch von Wolffs größerer Glaubwürdigkeit profitieren.

Warum aber ließ sich Wolff einspannen? In seinem Buch Der Krieg des Pontius Pilatus schreibt er, auch er habe die militärische Gefahr, die von dem Abkommen ausgehen könnte, gering eingeschätzt. Es hätte jedoch eine Ermutigung für alle Chauvinisten dargestellt, "denn es verstärkte in diesen Kreisen das Sicherheitsgefühl. Gleichzeitig musste es eine überaus willkommene Gabe für die deutschen Flottenfanatiker sein, die nicht zögern würden, nach immer weiterer Vermehrung der Abwehrmassregeln zu rufen, wieder Schlachtschiffe zu bauen, den überheissen Kessel weiter zum Glühen zu bringen. In dieser Stärkung derjenigen, die auf beiden Seiten, mit oder ohne Absicht, Europa für die grosse Schlächterei reif machten, lag in der Tag eine ungeheure Gefahr." Also veröffentlicht er am 22. Mai die Neuigkeiten in einem sehr moderat formulierten Artikel und beruft sich dabei auf einen angeblich absolut zuverlässigen Gewährsmann in Paris.

Viele Historiker, Egmont Zechlin etwa oder in jüngster Zeit Gerd Krumeich und Herfried Münkler messen diesem geplanten britisch-russischen Marineabkommen eine große Bedeutung bei. Nicht dem Abkommen selber, sondern der Tatsache, dass die deutsche Regierung davon erfuhr und ihre Hoffnung, dass sich das Verhältnis zu England gebessert - und damit die britische Einbindung in die Entente geschwächt -, anscheinend getrogen hatte. Man habe das Gefühl bekommen, dass sich die seit langem vollziehende Einkreisung Deutschlands unaufhaltsam verstärke, und zudem alles Vertrauen in die britische Regierung verloren, da diese leugnete, dass es ein solches Abkommen gäbe.

Im Sande verlaufen

Die europäische Öffentlichkeit jedoch reagiert auf Wolffs wenig panischen Artikel auch wenig aufgeregt. Die Kommentatoren der großen deutschen Zeitungen neigen im Großen und Ganzen der Ansicht zu, dass das Tageblatt hier einem falschen Gerücht aufgesessen sei. Erstens passe ein solches bindendes Abkommen nicht zur Grundausrichtung der englischen Politik, zweitens sei angesichts der Schwäche der russischen Marine auch keinerlei militärischer Nutzen für Großbritannien erkennbar. Einzig und allein Ernst von Reventlow, der Militärexperte der rechten Deutschen Tageszeitung - übrigens ein Bruder der Schwabinger Skandal-Gräfin Fanny - meint, die Briten hätten es auf Informationen des bekanntermaßen exzellenten russischen Spionage-Netzwerkes in Nordeuropa abgesehen, um im Kriegsfall schnell und effektiv die dänischen Meerengen zwischen Nord- und Ostsee sperren zu können.

Das ganze Bestreben, das geheime Abkommen durch eine Veröffentlichung zum Scheitern zu bringen, droht also zu Scheitern. Also legt Wolff am 2. Juni noch einmal nach. "An die englischen Liberalen" überschreibt er seinen Kommentar. "Wollen die englischen Liberalen nicht bemerken, wie sehr in dieser Stunde die erfreulichen Ergebnisse einer geduldigen Annäherungspolitik gefährdet sind?", fragt er. "Wollen sie, die einsichtigen Vorkämpfer dieser Politik, sich der klaren Erkenntnis verschließen, dass der russische Vorschlag, den Sir Edward Grey und die anderen Minister erwägen, das ganze Versöhnungswerk - ihr Werk - über den Haufen werfen soll?" Die Angesprochenen tun ihm den Gefallen: Am 11. Juni stellen sie eine parlamentarische Anfrage, auf die Außenminister Grey erwidert, es gäbe keine Abmachungen, die dem britischen Parlament die Freiheit nähmen, zu entscheiden, ob England an einem Krieg teilnimmt, und es seien auch keine beabsichtigt. Für die europäische Öffentlichkeit ist die Sache damit erledigt. Grey wird allgemein Glauben geschenkt und im Prinzip hat er auch nicht gelogen, da die geplante Marine-Konvention wohl keinen Passus enthalten hätte, der England zu einem Kriegseintrit auf Seiten Russlands gezwungen hätte. Die deutschen Politiker fühlten sich aber wohl denoch getäuscht und in ihrem Vertrauen auf eine Annäherung an England erschüttert. Ob die Affäre jedoch nennenswerten Einfluss auf ihr Verhalten in der Julikrise hatte, muss Spekulation bleiben, da es dafür keine Belege gibt.

C.P.

11.5.1914 Staatenlenker offline

In den frühen Morgenstunden des 11. Mai 1914 stirbt nach längerer Krankheit Martha von Bethmann Hollweg, die Frau des damaligen Reichskanzlers. Eineinhalb Monate später steht der trauernde Witwer vor der Aufgabe seines Lebens. Bekanntlich hat er die Julikrise nicht gemeistert, den Ersten Weltkrieg und damit den Ruin des Reiches, dessen Kanzler er war, herbeigeführt. Geführt? Gemeinhin gilt Theobald von Bethmann Hollweg als der entscheidende deutsche Politiker in der Julikrise. In dem Buch "Die Julikrise 1914" von Lüder Meyer-Arndt fand ich zum ersten Mal die Frage aufgeworfen, ob diese Sichtweise berechtigt ist. Meyer-Arndt weißt nicht nur nach, wie oft sich der Kanzler während der Krise gar nicht in Berlin, sondern auf seinem Gut in Hohenfinow aufhielt, sondern auch, dass viele Unterschriften unter diplomatischen Schriftstücken gar nicht von Bethmann Hollweg selber stammen, sondern von der Mannschaft des auswärtigen Amtes Jagow, Stumm und Zimmermann in seinem Namen versandt wurden. Zusammen mit Berichten über den pessimistischen, eigenbrötlerischen, verantwortungsscheuen Charakter Bethmann Hollwegs (im Februar 1915 gestand er dem Journalisten Theodor Wolff z.B., er habe das österreichische Ultimatum an Serbien gar nicht vorab kennen wollen, um nichts falsch zu machen) und seiner Neigung zur Melancholie lässt das bei mir den Verdacht aufkommen, dass der wichtigste deutsche Politiker in der Julikrise die meiste Zeit gar nicht "voll da" war, dass er sich immer wieder geistig und auch physisch aus den Ereignissen ausklinkte und sich zuhause in Hohenfinow dem Weltschmerz und der Trauer um Martha überließ. Möglicherweise beanspruchten ihn auch seine Kinder. Der älteste Sohn Friedrich soll dem Vater Sorgen bereitet haben, verriet Bethmann Hollwegs Patensohn Albrecht von Kessel später. Felix, der jüngere, war erst 16, allgemein auch kein leichtes Alter und vermutlich in den Schulferien während der Julikrise daheim in Hohenfinow, ebenso wie die 20jährige Tochter Isa, die dem Vater nach dem Tod der Mutter den Haushalt geführt haben dürfte. Wie sehr all das den Kanzler während der Julikrise von seinen politischen Pflichten ablenkte, bleibt natürlich Spekulation. Aber es würde erklären, warum die deutsche Politik in der Julikrise so dilletantisch, kurzsichtig und wenig durchdacht wirkt. Weil sie eben wirklich nicht durchdacht war, weil der Kaiser zu so etwas überhaupt nicht fähig war, der Kanzler aufgrund seiner persönlichen Situation nicht geistig präsent und die subalternen Beamten im Auswärtigen Amt genau das taten, was Ihnen aufgetragen worden war: nämlich Österreich-Ungarn volle Rückendeckung zu geben und auf einen möglichst schnellen, radikalen Schlag gegen Serbien zu drängen. Zur Ehrenrettung Bethmann Hollwegs darf man jedoch nicht unerwähnt lassen, dass er eigentlich gar nicht hatte Kanzler werden wollen, sondern von Wilhelm II. dazu genötigt worden war.

C.P.

 

17.3.1914 Die Frage nach den Drahtziehern

Ein Attentat in Frankreich beherrscht auch die deutschen Schlagzeilen. Die Frau des französischen Finanzministers Joseph Caillaux hat den Herausgeber des Figaro, Gaston Calmette, erschossen, weil dieser eine Schmutzkampagne gegen ihren Mann geführt hat. In Deutschland ist man auch deshalb bestürzt, weil der Sozialist Caillaux, der natürlich sofort sein Amt niederlegt, als recht deutschfreundlich gegolten hatte, der Figaro dagegen geradezu als antideutsches Kampfblatt. Also fällt die Verurteilung der Tat nicht allzu heftig aus. Henriette Caillaux wird bescheinigt, aus Liebe, aber eben dumm gehandelt zu haben, und ihren Mann gerade, indem sie ihn zu retten versuchte, ins Unglück gestoßen zu haben.

Die Caillaux-Affäre macht aber auch allen Debatten um den Kölner "Alarmruf" ein Ende. Trotzdem bleibt natürlich die Frage, ob es - trotz der Beteuerungen der Kölnischen Zeitung, dem sei nicht so gewesen - Drahtzieher gab, die hinter diesem Artikel steckten. Die deutsche Regierung jedoch kann es kaum gewesen sein, so bestürzt und ablehnend wie sie damals reagierte. Auch der deutsche Botschafter in St. Petersburg, Friedrich von Pourtalès, hatte sich beeilt, direkt nach Erscheinen des Artikels seiner Regierung zu versichern, dass seiner Meinung nach in Russland keine maßgebende Stelle einen Krieg gegen Deutschland wünsche oder gar gezielt vorbereite. Der Verdacht richtet sich deswegen gegen das Militär. Am 8. Dezember 1912 hatten Generalstabschef Moltke und Kaiser Wilhelm II. im Rahmen des ominösen "Kriegsrates" vereinbart, "durch die Presse besser die Volkstümlichkeit eines Krieges gegen Russland zu fördern." Es ist also durchaus nicht unwahrscheinlich, dass der Kölnische "Alarmruf" in diesem Rahmen enstanden ist und der Verfasser, Richard Ullrich, durch den deutschen Militär-Attachée in St. Petersburg gebrieft wurde. Zwar gibt es keinen Beweis, aber den Zweck, den Gedanken an einen Krieg "volkstümlicher" zu machen, hat der "Alarmruf" durchaus in Teilen erfüllt. Zwar reagierten die meisten der großen, renommierten Zeitungen recht kühl, wenn nicht sogar ablehnend, doch viele andere begrüßten es, über die angebliche Gefahr aus dem Osten aufgeklärt worden zu sein. Gerade der Artikel des Schwäbischen Merkur vom 3. März (Siehe unten) traf genau den Ton, den Moltke gewünscht hatte. Auch andere Zeitungen und die großen, rechten Verbände wie Wehr- und Flottenverein nahmen den Artikel, wie aus dem Kommentaren hervorgeht, zum Anlass, um für einen Präventivkrieg gegen Russland zu werben - zu dem der deutsche Generalstab die Regierung seit Jahren inständig drängte.

C.P.

14.3.1914 Doch noch der Vorwärts

Bei der Kölnischen Zeitung lässt man den Vorwurf, "mit Tinte und Druckerschwärze" den Frieden zu stören, natürlich nicht auf sich sitzen. Der Bericht der Petersburger Börsenzeitung, so heißt es, komme offenbar direkt aus dem russischen Kriegsministerium und sei eigentlich der schlagende Beweis, dass die eigenen Warnungen berechtigt seien. "Mit derartigen allgemeinen Vermerkungen der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung schafft man keine Tatsachen aus der Welt, und so lange nicht sachlich nachgewiesen ist, dass die Darlegungen unseres Mitarbeiters falsch sind, behaupten wir, dass sie tatsächlich richtig sind."

Sie erhält Schützenhilfe etwa vom Hamburgischen Korrespondent, der meint: "Selbst wenn der rheinische Artikel ungelegen für die deutsche Diplomatie kam, hätte er mit mehr Respekt behandelt werden müssen, da er sich in keiner Weise sensationell gegeben hat. Nun sind wir auch der Meinung, dass es unserer Diplomatie nur erwünscht sein kann, wenn das deutsche Publikum über den Stand des russischen Heeres unterrichtet wird, und in der russischen Regierung kein Zweifel darüber bleibt, dass man in Deutschland ihre Maßregeln kennt."

Das rechte Kampfblatt Deutsche Tageszeitung dagegen sieht in dem Artikel in der Norddeutschen nur eine "verbindliche, aber nicht warme" Antwort auf Minister Sasonow und den versöhnlichen Artikel in der Rossija. Allerdings meint sie, dass der Kölnische Alarmruf doch zwei positive Effekte gehabt habe: "Der Zusammenhang zwischen den deutschen Rüstungen und den Zielen der russischen Politik und deren Beziehungen zur deutschen Politik sind in einer Weise und in einem Umfange öffentlich zur Sprache gekommen, wie es zur Klärung des allgemeinen Urteils in Deutschland in hohem Grade nötig war. Das zweite vorteilhafte Ergebnis der Erörterung ist, dass man in Russland nunmehr über die Stimmung des deutschen Volkes unterrichtet ist."

Während sich die Gemüter aber im Großen und Ganzen wieder beruhigen, wird plötzlich doch noch der Vorwärts aktiv: "Die Rüstungstreiber brauchen eben beständig einen Popanz, um die nötige Angst zu erzeugen, in der auch ihre wahnwitzigsten Forderungen bewilligt werden", wettert er. "Die Post und ähnliche Organe brachten schon flammende Aufrufe für einen Präventivkrieg gegen Frankreich und Russland. Dass der Russenschreck dem Kruppzeug recht gelegen kommt, ist erst recht selbstverständlich." Dabei seien die russisch-französischen Rüstungsanstrengungen die Antwort auf die letzte große deutsche Heeresvermehrung und bewiesen höchstens, wie nutzlos und wahnsinnig das imperialistische Wettrüsten sei. "Eine Tollheit freilich, die kapitalistische Methode ist und aus der der Kapitalismus keinen Ausweg weiß. ... Die Beunruhigung aber, die die internationale Pressekampagne erzeugt hat, in der die Chauvinisten gegenseitig ihre Geschäfte förderten, beginnt die langsame Erholung des Wirtschaftslebens zu zerstören. Sie stört zugleich die Ruhe der Verhandlungen, die zwischen den Mächten gegenwärtig über die Abgrenzung ihrer kleinasiatischen Interessenssphären geführt werden." Deswegen solle man sich weniger auf die Friedensbeteuerungen der Regierungen verlassen als auf den entschlossenen Friedenswillen des Proletariats. "Die russische Regierung weiß aus Erfahrung, dass auf den Krieg die Revolution folgt und sie weiß, dass nach einem großen europäischem Zusammenstoß die Revolution noch viel gründlicher aufräumen würde, als nach dem Japanischen Kriege."

C.P.

13.3.1914 Auch deutsche Regierung auf Deeskalationskurs

Auch die deutsche Regierung, die direkt nach dem "Kölnischen Alarmruf" bereits erklärt hat, nichts mit dem Artikel zu tun zu haben, hat das Bedürfnis, die angespannte internationale Stimmung zu beruhigen. In einem "offizösen" Artikel in der halbamtlichen Norddeutschen Allgemeinen Zeitung geht sie erst auf einen Bericht der Petersburger Börsenzeitung ein, der den Stand der russischen Rüstung rühmt, meint aber, es sei "die Zuversicht begründet, dass dergleichen auf den Ton kriegerischer Überlegenheit gestimmte Erörterungen die guten Beziehungen der beiderseitigen Regierungen so wenig zerstören können, als es der unbegründete Alarmruf getan hat, der neulich in der Petersburger Korrespondenz eines deutschen Blattes enthalten war. Überhaupt wäre es verkehrt, eine entscheidende Bedeutung für die Gegenwart darin zu erblicken, wenn sich von Zeit zu Zeit mit Hilfe von Tinte und Druckerschwärze die alte Erfahrung bestätigt, dass durch nationalistische Erregungen die feststehende Ehrlichkeit der offiziellen Friedenspolitik zu kompromittieren versucht wird. Wir stimmen mit der Rossija ganz darin überein, dass die Regierungen der beiden benachbarten Kaiserreiche nicht die Absicht haben können, über die 'Legende' von der russisch-deutschen Freundschaft ein Kreuz zu machen."

C.P.

 

 12.3.1914 Russland versucht zu beschwichtigen

Der russische Außenminister Sergei Sasonow gibt dem Petersburger Spezialkorrespondenten der rumänischen Zeitung Az Est, Andreas Adorjan, ein international viel beachtetes Interview, das ganz offensichtlich dazu dienen soll, die Wogen nach dem "Kölnischen Alarmruf" zu glätten. So betont er etwa, das Verhältnis zu Österreich sei absolut korrekt. Da weder Russland noch Österreich-Ungarn auf dem Balkan an territoriale Expansion dächten, sei es eine "absolute Unmöglichkeit", dass deswegen ein Konflikt ausbreche. Auf Adorjans Bemerkung "Man führt den Gegensatz, der zwischen Deutschland und Russland bestehen soll, auf den seiner Zeit erwähnten Kampf zwischen der germanischen und slawischen Rasse zurück", entgegnet er: "Ich hoffe, Sie glauben nicht, dass im 20. Jahrhundert die Politik sich noch von Gefühlen und nicht lediglich von Interessen leiten lässt. Ein Krieg, wie Sie ihn sich vorstellen, würde ein Weltkrieg sein. Die Interessen der ganzen Welt aber fordern den Frieden. Im Jahr 1917 wird die Frage der Handelsverträge [zwischen Russland und Deutschland] aktuell werden, aber auch hier sehe ich keine Reibungsflächen. Herr von Jagow, der Staatssekretär des Äußeren in Berlin, hat erklärt, dass Deutschland mit den Handelsverträgen zufrieden sei. Wir sind hauptsächlich ein Agrarstaat und Deutschland ist unser größtes Absatzgebiet. Ich glaube, dass eine Vereinbarung nicht schwer fallen wird."

Auch in der regierungsnahen russischen Zeitung Rossija erscheint ein Artikel, der jegliche aggressiven Absichten gegen Deutschland zurückweist. 

C.P.

10.3 1914 Die Kölnische Zeitung legt nach

Ein weiterer Artikel der Kölnischen Zeitung zeigt sehr gut, wie jede Seite sich in dem Rüstungswettlauf vor dem Ersten Weltkrieg als den friedlichen Teil ansah, der mit seinen Maßnahmen nur auf Aggressionen und Bedrohungen der anderen Seite reagierte. Die Kölnische Zeitung zweifelt zunächst den defensiven Charakter des russisch-franzöischen Bündnisses an. Sie zitiert dazu den ehemaligen französischen Außenminister Alexandre Ribot, der sich 1911 dagegen verwehrte, dass das deutsch-französische Bündnis eigentlich nur Deutschland nutze, indem es den Status quo sichere. Ribot erklärte: "Meine Herren nichts ist weniger wahr, ich möchte sogar sagen, nichts ist falscher. Wenn zwei große Länder ein Bündnis von langer Dauer abschließen, so binden sie ihre beiderseitige Politik nicht nur im HInblick auf die Erhaltung des Friedens, sondern auch im Hinblick auf die Möglichkeiten, die man nicht voraussehen kann ... Sie behalten sich das Recht vor, den Ereignissen zu folgen, eine Politik zu vereinbaren und gegebenenfalls alle Vorteile daraus zu ziehen." Ebenfalls herangezogen wird Ribots Nachfolger Théophile Delcassé, der 1879 meinte, der Zweibund gestatte Frankreich die weitesten Pläne. "Gewiss die überwiegende Mehrheit des französischen Volkes will weder von diesen Nutzungsmöglichkeiten des Bündnisses mit Russland, wie sie Ribot und Delcassé aus diesem Bündnis deuten und planen - denn wozu sonst ihre Rederei darüber? - noch von dieser gefährlichen Rolle des Schiedsrichters zwischen Deutschland-Österreich und Russland etwas wissen", schreibt die Kölnische Zeitung. "Es will den Frieden, den Frieden um jeden Preis, außer um den seiner Bedrohung und Erniedrigung. Wer aber bedroht denn heute Frankreich? Wer will es erniedrigen? Etwa Deutschland, wie man behauptet, weil es seine Heeresmacht verstärkt hat? Sieht denn das französische Volk, sieht denn die Welt nicht, dass diejenigen, die des behaupten, eben diesselben sind, die ihm jene gefährlichen Theorien und Zukunftsbilder vom Nutzungswert des Bündnisses mit Russland vorhalten, eben diesselben, die mit aller Macht und mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln Russland zu den gewaltigsten Rüstungen antreiben, mit der offenen Forderung, sie gegen Deutschland zu richten, um es erdrücken zu können, und eben diejenigen, die mit dem einen und dem anderen Deutschland zu dieser Gegenwehr nötigen, welche sie dann heute ihm zur Verhüllung der eigenen Pläne als gegen andere, als gegen Frankreich ausgerichtet auslegen? Möge die Achtsamkeit aller sich vereinigen, die in Frankreich wie in Russland und Deutschland, es ehrlich um den Völkerfrieden meinen. Es tut Not."

C.P.

9.3. 1914 Spott und Sorge

Die Unruhe über den "Alarmruf" der Kölnischen Zeitung hat nun auch das linksliberale Berliner Tageblatt ergriffen. Ein anonymer Artikel "von besonderer Seite" - in späteren Schriften wird Tageblatt-Chefredakteur Theodor Wolff enthüllen, dass es sich um den ehemaligen deutschen Botschafter in Rom, Anton Graf von Monts, handelt - lässt sich über das "doppelte Antlitz" der russischen Politik aus. "Das angeblich konservative Autokratentum und die radikalen panslawistischen Strömungen, das meist korrekte Ministerium des Äußeren und eine anscheinend kaum noch Order parierende, aber nie desavourierte Schar von wühlerischen Diplomaten, Konsuln und Militärattaches, die friedliche, einen heiteren Börsenhimmel erstrebenden Hochfinanz und die offen zum Krieg treibenden Militärs, die Betonung monarchischer Solidarität Berlin und Wien gegenüber und die Verbrüderung mit dem republikanischen Geldgeber an der Seine. Je nach Bedarf werden an der Newa die verschiedenen Register gezogen." Der Verfasser meint, diesem Doppelspiel müsse ein "Bis hierher und nicht weiter" entgegengesetzt werden und deutet sogar an, dass ein Land in eine Lage kommen kann, in der es so bedrängt wird, dass ein Präventivkrieg nötig ist. Ein Statement wie es bisher noch nicht einmal die rechtsradikale Deutsche Tageszeitung gemacht hat. Später wird Theodor Wollf später behaupten, dass er den Artikel von Monts (der im übrigen in mehreren Briefen an Wolff im Februar 1914 die Überzeugung geäußert hat, Deutschland müsse seine Nachgiebigkeit gegen Russland beenden, das nur bluffen würde und viel zu schwach für einen großen Krieg sei) nur veröffentlicht hat, um der Idee eines Präventivkriegs entgegen zu treten. Tatsächlich erklärt er in einem Kommentar, solche Pläne seien unter allen Umständen zu verwerfen (und auch dem Autor gehe es nur um den Frieden), aber er fühlt sich doch bemüssigt zu betonen, man müsse der panslawistischen Agitation tatsächlich eine kühl entschiedene Politik gegenüberstellen, was Deutschland in seinen Beziehungen zu Russland wollen kann und was nicht. Zwar seien die Konfliktgründe für einen Krieg in den letzten Monaten zum Teil ausgeschaltet worden, aber es bleibe das nicht so genau Bestimmbare, nicht Greifbare und darum weit Schlimmere. Der russische Koloss plus französischem Chauvinismus und französischem Geld sei gefährlich.

Die Vossische Zeitung dagegen bleibt dabei, hinter dem Artikel irgendwelche deutschen Rüstungsinteressen zu vermuten. "Gleichzeitig mit dem Petersburger Vertreter eines rheinischen Blattes kam eine Reihe anderer Mitarbeiter deutscher Zeitungen hinter das große Geheimnis, das Russland fieberhafte Kriegsrüstungen gegen das deutsche Reich betreibe, seine Belagerungsartillerie vermehre, seine Kavallerie verstärke, umfassende Probemobilisierungen vorbereite, kurzum dass fürchterliche Gefahren von Osten drohen. Mit bemerkendwerter Plötzlichkeit waren die Schwarzmaler in Köln, in Berlin, in Breslau und an anderen Orten an die Arbeit gegangen, alle unabhängig voneinander, aber alle, wie wenn ein einziger Blitz in dunkler Nacht sie über die bedrohliche Lage aufgeklärt habe." Schon würden General Klein, der Leiter des Wehrvereins, und General Bernhardi vom Flottenverein, neue Rüstungen fordern. Die Zeitung hält wieder dagegen, dass die russischen Rüstungen nichts Neues seien und es schon zu Bismarcks Zeit immer geheißen habe, Russland plane einen Angriffskrieg. Bismarck aber "führte keinen Präventivkrieg und der Alarm hörte auf, und die Völker erfreuten sich dauernden Friedens, und das Wirtschaftsleben nahm einen mächtigen Aufschwung. Darüber ist nun auch schon ein Vierteljahrhundert vergangen. Und nur dieses Mal", spottet der Verfasser, "soll der Krieg ganz gewiss unvermeidlich sein? Dieses Mal ist auch die Vorsehung nicht mehr imstande, den blutigen Zusammenstoß zu verhindern, und deshalb soll man ihr zuvorkommen?" Der Artikel schließt mit dem Statement: "Nächst dem Krieg gibt es für ein schaffendes Volk keine größere Plage, als die immer wieder angefachte Sorge vor einem Krieg."

C.P.
 

6.3. 1914 Beifall aus Stuttgart und Leipzig

Die Kölnische Zeitung verwahrt sich gegen alle Spekulationen, dass ihr Russland-Artikel irgendwelche "Nebenzwecke" habe erfüllen sollen. "Der Artikel ist selbstverständlich genau das, als was er sich gibt, nämlich eine selbstständige Arbeit unseres Petersburger Vertreters, nicht mehr, aber auch nicht weniger." Sie weist außerdem darauf hin, dass sie in der deutschen Presse durchaus viel Zustimmung erfahren habe, etwa vom Schwäbischem Merkur, in dem es hieß: "Wer den Artikel in seinem vollen Umfange gelesen hat, kann nur den Eindruck einer auf sachkundiger Beherrschung der Dinge beruhenden und gewissenhaft erwogenen geistigen Arbeit haben. Von einer bloß subjektiven "Stimmung" kann gar keine Rede sein. Und die Überzeugung von der Richtigkeit des hier Gebotenen wird in dem Leser um so stärker sein, als er ja im Grunde nur bestätigt wird, was angesichts so mancher Erscheinungen der jüngsten Zeit nur zu sehr zu vermuten war. Wir unsererseits sehen nicht ein, warum nach irgendwelchen geheimen Zwecken hinter dem Artikel der Kölnischen Zeitung gesucht werden muss. Es ist einfach Pflicht der unabhängigen Presse, ihre Leser über die wahre Lage, insbesondere in kritischen Zeiten, gewissenhaft aufzuklären. Eine Vertuschungstaktik kann ja eine Zeitlang von Erfolg sein. Haben sich die internationalen Verhältnisse so zugespitzt, dass nach gewissenhafter Überzeugung eine Katastrophe früher oder später unvermeidlich ist, dann kann die Fortsetzung einer solchen Taktik geradezu verderblich wirken. Soll ein Krieg mit Begeisterung geführt weden, dann muss die Nation von seiner Notwendigkeit überzeugt sein. Das kann sie aber nicht werden, wenn sie bis zum letzten Augenblick über die wirklichen Gefahrn im Unklaren gehalten und gelehrt wird, dort Freunde zu erblicken, wo ihr in Wirklichkeit erbitterte Gegner entstanden sind. Unter diesem Gesichtspunkt sollte der Kölnische "Alarmruf" überall ernste Beachtung finden, selbst wenn die offiziösen Missfallensbezeugungen sich noch häufen sollten." Und das Leipziger Tagblatt schrieb über die russische Regierung: "Es ist doch eine gar zu törichte Meinung, dass die von ihr seit geraumer Zeit betriebenen Kriegsvorbereitungen in Deutschland unbeachtet bleiben würden. Wenn auch der vielbesprochene Artikel der Kölnischen Zeitung, wie wir bereits belehrt worden sind, nicht von Berlin aus "inspiriert" worden ist, so war er doch sachgemäß, und das ist schließlich wichtiger als die Frage nach seinem Ursprung."

C.P.

3.3. 1914 Und warum das alles?

Auch die meinungsführende deutsche Presse schüttelt ob des Alarm-Artikel der Kölnischen Zeitung eher den Kopf und fragt sich, was damit eigentlich bezweckt werden soll. Die Vossische Zeitung deutet in einem sehr spöttisch gehaltenen Artikel an, dass möglicherweise die Rüstungsindustrie und ihre Sympathisanten dahinter stecken könnten, um eine Panik zu erzeugen, die zu weiterer Aufrüstung führen solle. Ansonsten erinnert sie an diverse andere ähnliche Panik-Artikel der Vergangenheit, die auch stets von einem unvermeidlichen Krieg mit Russland gesprochen hätten, der bisher noch jedes Mal vermieden worden sei. Auch erteilt sie Präventivkriegs-Überlegungen mit Verweis auf Bismarck eine Absage, der einmal sagte, ein Präventivkrieg sei wie ein Selbstmord aus Angst vor dem Tod. Erstaunlicherweise klingen auch rechte Blätter wie die sonst so radikale Deutsche Tageszeitung nicht anders. Auch sie verweist darauf, dass die russischen Rüstungen wahrlich nichts Neues seien und man sich gegen mögliche Angriffe im Stillen wappne und nicht derart herumschreie. Möglicherweise ist die Deutsche Tageszeitung aber auch deshalb so zahm, weil ihr Lieblingsfeind, der Vorwärts ebenfalls nicht auf die Steilvorlage aus Köln reagiert. Denn die Sozialisten bereiten mit Feuereifer den Internationalen Frauentag am 8. März vor, zu dem sie überall große Kundgebungen für die Einführung des Frauenwahlrechts planen.

C.P.

 

2.3. 1914 Die Kölnische Zeitung schlägt Alarm

Eigentlich ließ sich das Jahr 1914 recht ruhig an, das erschien plötzlich in der Kölnischen Zeitung ein Artikel, der Wellen schlug. Der St. Petersburger Korrespondent des Blattes, Richard Ullrich, suchte zu beweisen, dass Russland sich gezielt auf einen Krieg mit Deutschland vorbereite. Im Herbst 1917, so der Tenor sei es fertig. Nun war es kein Geheimnis, dass Russland damals - wie auch Deutschland und Frankreich - militärisch aufrüstete. Die "Enthüllungen" sorgten also keineswegs für Panik. Vielmehr fragten sich die politischen Beobachter, was dieser Artikel eigentlich soll. Im Ausland vermutete man, die deutsche Regierung hinter den Auslassungen, da die Kölnische Zeitung sich in der Vergangenheit immer wieder für "offiziöse" Veröffentlichungen hergegeben hatte, und interpretierte den Artikel als Auftakt eines nicht gerade freundlichen politischen Manövers. Die Besorgnis, was Deutschland wohl beabsichtigen könne, ging soweit, dass in Paris und St. Petersburg die Börsen einbrachen. Die deutsche Regierung dementierte daraufhin umgehend, mit dem Artikel irgendetwas zu tun zu haben und auch die Kölnische Zeitung versicherte energisch, nur ihrer journalistischen Berichterstatterpflicht nachgekommen zu sein. So recht mochte das aber niemand glauben. 

C.P.


27.2. 1914 Enge wirtschaftliche Verflechtung mit London

Der deutsche England-Botschafter Karl Max von Lichnowsky ist bei der Londoner Handelskammer zu Gast und betont dort die engen wirtschaftlichen Beziehungen zwischen beiden Ländern. Deutschland sei unter den europäischen Ländern, aber auch in der Welt der beste Kunde Englands, genauso wie auch England inzwischen der beste Kunde der deutschen Wirtschaft sei.

C.P.

 

1.1. 1914 Gebremster Optimismus zum Jahreswechsel

Ein Opfer- und Krisenjahr, ein Jahr des Missvergnügens: Die Verurteilungen des abgelaufenen Jahres 1913 in weiten Teilen der deutschen Presse vor hundert Jahren waren hart. Erinnert wird an die Balkankriege, die immer wieder zum Weltkrieg auszuarten drohten, an die harten Opfer, die vom Volk verlangt wurden, um die militärische Aufrüstung zu finanzieren, an die schlechte wirtschaftliche Entwicklung und an den mangelnden Reformwillen der Regierung. Auch die Jubelfeiern anlässlich des 100. Jahrestags der Völkerschlacht von Leipzig haben in linken und liberalen Kreisen die Stimmung nicht verbessern können. Von Geschichtsklitterung und Fürstenfeiern ist die Rede. Am Ende des Jahres kam dann noch die Zabern-Krise dazu. Ausschreitungen des Militärs, die von den staatlichen Stellen nicht geahndet wurden, führten dazu, dass es im ganzen Land zu erregten Protesten kam und alle Parteien im Reichstag mit Ausnahme der äußersten Rechten der Regierung ihr Misstrauen aussprachen. Diese Affäre kochte zum Jahreswechsel noch einmal hoch: Befriedigt konstatierte ein Großteil der Presse, dass der junge Leutnant, der die ganze Krise ausgelöst hat, zu 43 Tagen Haft verurteilt worden war. Allerdings wurde auch mit Empörung registriert, dass sich mit dem Berliner Polizeipräsidenten Traugott von Jagow ein öffentlicher Spitzenbeamte diffamierend über die Justiz äußerte. Teilweise überwogen die Zabern-Affäre und die tiefe innenpolitische Spaltung, die sie an den Tag gelegt hatte, in den Jahresrückblicken deshalb sogar die Außenpolitik. Was die betrifft, so hegten die meisten Leitartikler einen gebremsten Optimismus. Erleichtert registrierten sie, dass der teils so sicher scheinende Weltkrieg noch einmal abgewendet worden sei. Viele streichen die Rolle Deutschlands hervor, das sich in hervorragender Weise für den Frieden eingesetzt habe. Allgemein wird das verbesserte Verhältnis zu England als Zeichen der Hoffnung gesehen. Gerade in der konservativen Presse wird auch der russischen Politik zugebilligt, dass sich dort die friedenswilligen Kräfte durchgesetzt hätten. Was dagegen Frankreich betrifft, so überwiegt die Meinung, dass die Kriegstreiber im Nachbarland durch das starke feste Auftreten Deutschlands und die Reserve Englands eingeschüchtert und in ihre Schranken verwiesen worden seien. Allgemein ist man der Meinung, dass der Dreibund, dem Deutschland angehört, durch die Krise gestärkt worden sei, die russisch-französisch-britische Entente dagegen geschwächt. Auch glaubt man, dass sich bei allen Staatenlenkern die Erkenntnis durchsetze, dass ein europäischer Krieg so furchtbar und ungewiss in seinem Ausgang werden würde, dass niemand die Verantwortung mehr auf sich nehmen wolle, einen solchen auszulösen. 

 

Weihnachtsbaum in der Pulverkammer

Man muss schon an die rechten und linken Ränder schauen, um ernste Zweifel an einer friedlichen Entwicklung zu entdecken. Die rechtsradikale Deutsche Tageszeitung glaubt, dass es töricht und kurzsichtig sei, wegen der scheinbaren internationalen Entspannung in der Kampfbereitschaft nachzulassen. "Jede solche Minderung oder auch nur jede Andeutung, dass wir diese für möglich erachten, würde mit Notwendigkeit eine Verschlechterung und Verschärfung der Lage zur Folge haben. Wir sind nur solange als Freunde gesucht, wie wir als Gegner gefürchtet sind. Man rechnet mit uns nur, wenn wir uns nicht beiseite schieben lassen. So groß die Opfer sind, die wir für unsere Wehrhaftigkeit zu Wasser und zu Lande in der letzten Zeit haben bringen müsssen, so werden wir doch nicht damit rechnen dürfen, dass sie etwa in nächster Zeit vermindet werden könnten; im Gegenteile müssen wir auch in Zukunft darauf bedacht sein, Lücken auszufüllen und unser Schwert in voller Schärfe zu erhalten, sonst ist es sofort um den Frieden, um unsere Weltstellung, um unsere Ehre, um unsere Zukunft geschehen."

Der sozialistische Vorwärts dagegen sieht angesichts der Rüstungsanstrengungen in allen Ländern, bei denen Deutschland "wie selbstverständlich mit seiner Militärvorlage" an der Spitze marschiert sei, keinen Grund zur Entwarnung. "Der Weihnachtsbaum, den sich Europa entzündet", prophezeit das SPD-Blatt, "steht in einer Pulverkammer - spritzt ein Funke zur Seite, so fliegt mit unendlichem Getöse der ganze Erteil in die Luft."

C.P.

Eine ausführliche Presseschau (Berliner Tageblatt, Vossische Zeitung, Vorwärts, Frankfurter Zeitung, Berliner Lokalanzeiger, Kölnische Zeitung, Münchner Neueste Nachrichten, Germania, Neue Preußische Kreuzzeitung, Hamburger Nachrichten, Deutsche Tageszeitung) gibt es hier.

  

25.12. 1913 Weihnachten

Das letzte Weihnachtsfest vor dem großen Krieg konnte mit ungewöhnlich viel Schnee und einer weltpolitischen Entspannung aufwarten. "Zwar was allerlei Propheten uns von dem Unheilsjahr 1913 geweissagt haben, hat sich nicht erfüllt", zieht Walther Nithack-Stahn, Pfarrer an der Berliner Gedächtniskirche, in seinem Weihnachtsbeitrag im Berliner Tageblatt Bilanz. "Weder die Ziffer, die die Abergläubischen schreckt, noch die blutigen Jahrhunderterinnerungen [an die Völkerschlacht von Leipzig] haben es heraufbeschworen. Der vielberufene, angeblich unvermeidbare Weltkrieg ist nicht entbrannt. Im Gegenteil, was vor Jahresfrist in der Wetterecke Europas tobte, hat sich gelegt." Allerdings hatte es bis zum Oktober 1913 gedauert, dass die Krise, die durch den Ersten Balkankrieg im Herbst 1912 ausgebrochen war und die immer wieder akute Weltkriegsgefahr mit sich brachte, endgültig überwunden war. Es waren auch nicht alle in Deutschland darüber glücklich. Es gab die gut organisierte und lautstarke Fraktion derer, die es lieber gesehen hätten, wenn auf dem Balkan einmal "gründlich aufgeräumt" worden wäre. Ihnen versucht Nithack-Stahn ins Gewissen zu reden: "Zu einem edleren Kampfe sind wir berufen als zu dem der Geschütze und Bajonette - zum gemeinsamen Kampf mit den feindlichen Kräften der Natur, mit den lastenden Rätseln des Daseins und mit dem Unmenschlichen in uns selber."

Noch deutlicher wird sein Kollege Immanuel Heyn in der Vossischen Zeitung: "Sie werden ja nicht alle, die für unsere und die kommende Zeit alles Heil von der Herrschaft des Säbels erwarten, die die höchste Aufgabe eines Staates nicht darin sehen, dass er Hüter des Rechts, sondern dass er Verfechte der Macht sei, die von 'Pazifisten', besonders wenn es Pfarrer sind, als von Schwächlingen und Vaterlandsverrätern reden. Demgegenüber sage ich: ich glaube an den Sieg der Vernunft und an den Sieg der tiefsten Gedanken Jesu, das ist das kommende Reich Gottes auf der Erde, darum hoffe ich mit dem Dichter: 'Mählich wird es sich entfalten, seines heil'gen Amtes walten, Schwerter schmieden ohne Fährde, Flammenschwerter für das Recht,  und ein königlich Geschlecht, wird erblühn mit starken Söhnen, dessen helle Tuben dröhnen: Friede, Friede auf der Erde!"

C.P.

  

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